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Τρίτη 13 Αυγούστου 2013

Hl. Gregor der Theologe Über die Liebe zu den Armen

Hl. Gregor der Theologe Über die Liebe zu den Armen
Hl. Gregor der Theologe
Über die Liebe zu den Armen [1]
Vorrede
1.Männer und Brüder und Mitbedürftige – denn alle sind wir arm und bedürftig der göttlichen Gnade, mag einer auch meinen, dem anderen überlegen zu sein, wenn er die Dinge mit  kleinen Maßstäben mißt –, ich bitte euch, nehmt diese Rede über die Liebe zu den Armen nicht mit Armseligkeit entgegen, sondern mit Großmut, damit ihr reich werden möchtet am Gottesreich. Und betet mit uns, damit uns gegeben werde, euch das Wort in Fülle zu verschaffen und mit diesem eure Seelen zu ernähren und das geistige Brot an jene auszuteilen, die hungern danach, sei es, indem wir Speise vom Himmel herabregnen lassen, wie Moses vormals (s. Ex 16,14ff), und Brot von Engeln verteilen (s. Ps 77,25), sei es indem wir mit wenigen Broten Tausende speisen in der Wüste, wie es Jesus danach tat (s. Mt 14,15ff), Er, das wahre Brot und die Quelle des wahren Lebens.
      Frage nach der höchsten Tugend
2. Es ist wahrlich nicht leicht, zu bestimmen, welches die höchste aller Tugenden ist, welche den Vorrang hat und siegt über alle anderen, geradesowenig wie sich aus einer üppig blühenden und duftenden Wiese ohne weiteres die schönste und am wunderbarsten duftende Blume auswählen läßt, ziehen dich doch die Schönheit und der Duft bald zur einen, bald zur anderen hin, um dich zu überzeugen, dass sie die Schönste ist. Was mich selbst betrifft, so  gehe ich hierbei von folgenden Überlegungen aus:
Gut sind Glaube,  Hoffnung und Liebe, diese drei (1 Kor 13,13). Zeuge des Glaubens ist Abraham, der durch den Glauben gerechtfertigt wurde (s. Gen 15,6). Zeugen der Hoffnung sind Enoch, der als erster  seine Hoffnung auf die Anrufung des Herrn setzte (s. Gen 4,26), sowie alle Gerechten, die um der Hoffnung willen Unbill ertrugen. Zeugen der Liebe sind der göttliche Apostel, der um Israels willen sogar gegen seine eigene Person redete (s. Röm 9,3), sowie Gott
Selbst, Der die Liebe genannt wird (1 Joh 4,8).
Gut ist die Gastfreundschaft, und Zeuge hiervon sind unter den Gerechten Lot, Bewohner von Sodom, doch nicht Sodomit der Lebensweise nach, und unter den Sündern die Dirne Raab, die jedoch keine Dirne war der Gesinnung nach und durch die Gastfreundschaft Lob gewann und gerettet wurde.
Gut ist die Bruderliebe, und ihr Zeuge ist Jesus, Der es nicht nur hinnahm, unser Bruder genannt zu werden, sondern auch zu leiden für uns.
Gut ist die Menschenliebe, und ihr Zeuge ist abermals Jesus, Der nicht nur den Menschen erschuf zu guten Werken und dem Staub das Gottesbild beigesellte, damit es ihn zum Besseren erhebe und ihm das Himmlische verschaffe, sondern auch Mensch wurde um unsertwillen.
Gut ist die Langmut, und ihr Zeuge ist Derselbe, Der nicht nur darauf verzichtete, die Legionen der Engel aufzubieten gegen jene, die aufstanden wider Ihn und Gewalt anwandten gegen Ihn, und nicht nur Petrus rügte für das Ziehen des Schwerts, sondern überdies das Ohr des Verwundeten heilte (s. Mt 26,51ff; Lk 22,50-51). Dasselbe tat später auch Stephanus, der Jünger Christi, als er betete für diejenigen, die ihn steinigten (s. Apg 7,59-60). 
Gut ist die Sanftmut, und ihre Zeugen sind Moses und David, denen diese Tugend bezeugt wird vor allen anderen (s. Num 12,3 und Ps 131,1), sowie ihr eigentlicher Lehrmeister, Der weder stritt, noch die Stimme erhob auf den Plätzen, noch Sich denen widersetzte, die Ihn abführten (s. Is 42,2 und 57,7).

3.  Gut ist der [Gott gemäße] Eifer, und Zeuge hiervon ist Phinees, der zusammen mit der Madianitin auch den Israeliten durchbohrte, damit die Schande hinweggenommen würde von den Söhnen Israels, und der seinen Namen seiner Hingabe wegen erhielt (s. Num 25,7ff). Nach ihm zeugten davon jene, die sagten: "Mit großem Eifer eiferte ich für den Herrn" (3 Kön 19,14), und:    "Mit dem Eifer Gottes bin ich bemüht um euch" (2 Kor 11,2) und: "Der Eifer für Dein Haus verzehrte mich" (Ps 68,10). Und sie sagten es nicht nur, sondern sie lebten es auch.
Gut ist die Unterwerfung des Leibes, und davon möge dich Paulus überzeugen, der sich allezeit in Zucht hielt (s. 1 Kor 9,27) und mit dem Beispiel Israels jene abschreckte, die auf sich selbst vertrauen und am Körper hangen. Zeuge ist auch hier Jesus Selbst, Der fastete und den Versucher besiegte, der Ihn versuchte (s. Mt 4,1ff).
Gut auch ist das Beten und Wachen, und davon überzeuge dich Gott Selbst, Der wachte und betete vor Seiner Passion (s. Mt 26,36).
Gut sind Reinheit und Jungfräulichkeit, und auch hiervon überzeuge dich Paulus, der Verordnungen erließ hierüber und mit Recht sowohl die Ehe als auch die Ehelosigkeit lobte (s. 1 Kor 7,1ff), und Jesus Selbst, Der geboren wurde aus der Jungfrau, damit sowohl das Gebären geehrt als auch der Jungfräulichkeit der Vorzug gegeben werde.
Gut ist die Selbstbeherrschung, und davon überzeuge dich David, der, obwohl er zu trinken begehrte, nicht trank von dem Wasser, das man aus dem Brunnen von Bethlehem hergeholt hatte, sondern es als Trankopfer darbrachte, da er sein Gelüst nicht auf Kosten fremden Bluts befriedigen wollte (s. 2 Kön 23,15ff).[2]
    
4. Gut ist die Einsamkeit und Hesychia, und dies lehren mich der Karmel des Elias, die Wüste des Johannes und der Berg Jesu, auf den Er Sich oft zurückzuziehen pflegte, wie sich zeigt, um allein in der Hesychia zu verharren.
Gut ist die Einfachheit, und dies lehren mich Elias, der bei einer armen Witwe wohnte, und Johannes, der sich mit Kamelfell bedeckte, sowie Petrus, der sich von Lupinen im Wert eines As[3] ernährte.
Gut ist die demütige Gesinnung, und von ihr gibt es viele und vielerlei Beispiele, allen anderen voran jenes des Erlösers und Gebieters aller, Der Sich Selbst nicht nur erniedrigte bis zur Knechtsgestalt (a. Phil 2, 6-7), Sein Antlitz darbot zur Schmach des Bespucktwerdens und Sich zu den Verbrechern rechnen ließ – Er, Der hinwegnimmt die Sünde der Welt (s. Is 50,6; 53,12), sondern auch Seinen Jüngern die Füße wusch, so als wäre Er ihr Knecht (s. Joh 13,5).
Gut ist die Besitzlosigkeit  und die Verachtung des Geldes, und dies bezeugen Zachäos und Christus Selbst, der erstere, indem er durch Christi Eintreten  in sein Haus bewegt wurde, beinahe seine ganze Habe zu verteilen (s. Lk 19,8), der Letztere, indem Er dem reichen Jüngling  diese Tugend nannte als das Vollkommene (s. Mt 19,21).
Und um alles in Kürze zu sagen – gut ist die Gottesschau, gut auch die Praxis.[4] Die erstere, weil sie aus dem Irdischen entrückt,  in das Allerheiligste erhebt und unseren Geist zurückführt zu dem ihm Verwandten. Die letztere, weil sie Christus aufnimmt und Ihm dient und durch ihre Werke die Liebe beweist.

Die Liebe ist das höchste Gebot,
die Liebe zu den Armen ihr bester Teil
5. Jede dieser Tugenden ist ein Weg zum Heil und führt zu einer der ewigen und seligen Wohnstätten, denn so wie es verschiedene Arten der [gottgefälligen] Lebensführung gibt, so auch gibt es viele Wohnungen bei Gott (s. Joh 14,2), die sich voneinander unterscheiden und jedem zugeteilt werden gemäß seinem Verdienst.
So erkämpfe sich denn der eine diese Tugend, der andere jene, ein anderer noch mehrere zusammen oder gar alle miteinander, sofern dies möglich ist. Wenn er nur voranschreitet auf dem Weg und nach dem je Höheren strebt, indem Er auf dem Fuß Demjenigen folgt, Der ihn in rechter Weise lehrt und lenkt und ihn auf dem schmalen Pfad und durch das enge Tor hinausführt in die Weite der jenseits von diesen liegenden Seligkeit.
Müssen wir aber Paulus und Christus Selbst glauben, dass die Liebe das erste und höchste Gebot ist und dass diese die Summe des Gesetzes und der Propheten bildet (s. Mt 22,26ff; 1 Kor 13,1ff), dann finde ich, dass der beste Teil derselben die Liebe zu den Armen ist und das Erbarmen und Mitfühlen mit unseren Mitmenschen. Denn keines von allen Dingen ist so heilsam wie das Erbarmen, weil nichts Gott näher ist als dieses – Ihm, Dem Erbarmen und Wahrheit vorangehen  (Ps 88,15) und Dem die Barmherzigkeit lieber ist als das Recht (s. Mt 9,13; Os 6,6). Und Er, Der mit Gerechtigkeit vergilt und die Barmherzigkeit als Waage nimmt (s. Is 28,17), vergilt nichts so sehr mit Erbarmen wie das Erbarmen (s. Mt 5,7). .
6.  Deshalb sind wir gehalten, allen Armen ein erbarmendes Herz zu öffnen, all denen, die, aus irgendeinem Grund in Not sind, gemäß dem Gebot, das uns gebietet, uns zu freuen mit den sich Freuenden und zu weinen mit den Weinenden (Röm 12,15). Wir sind gehalten, den Menschen den Liebesdienst der Güte darzubringen, denn auch wir selbst sind Menschen, ob sie nun desselben bedürfen, weil sie verwitwet sind, oder weil sie zu Waisen wurden oder fernab sind von ihrer Heimat oder zu Opfern wurden von herrschaftlicher Willkür und Grausamkeit, der Unmenschlichkeit von Steuereintreibern, der mörderischen Gewalt von Räubern, der Unersätt-lichkeit von Dieben, der Beschlagnahme ihres Besitzes oder eines Schiffsuntergangs. Alle sind gleicherweise erbarmungswürdig und schauen auf unsere Hände, so wie wir selbst auf die Hände Gottes schauen und um ihre Hilfe bitten. 


Besonderes Erbarmen für die Aussätzigen.
Exkurs: Das ungleiche Gespann von Geist und Körper.
Unter diesen bedürfen unseres Erbarmens mehr noch als jene, die das übliche Maß an Not erleiden, diejenigen, die in übermäßigem Elend sind, insbesondere die von der heiligen Krankheit Befallenen,[5] deren Fleisch zerfressen ist bis auf die Knochen und bis aufs Mark, so wie es einigen angedroht wurde (s. Is 10,18), ausgeliefert von diesem geplagten, niedrigen und unverläßlichen Körper, von dem ich nicht weiß, wie ich ihm verbunden wurde und wie ich zugleich Abbild Gottes bin und vermischt mit Lehm (s. Gen 1,27; 2,7). Dieser Leib führt Krieg, wenn er gesund ist, und wird unwillig, wenn man ihn bekriegt. Als meinen Mitknecht liebe ich ihn, als meinen Feind verstoße ich ihn. Als Hindernis meide ich ihn, als Miterbe flößt er mir Scheu ein. Ringe ich, um ihn zu erschöpfen, fehlt mir der Helfer, den ich brauche, um das Höchste zu erlangen, denn ich weiß, zu was ich erschaffen worden bin und dass ich aufsteigen muß zu Gott durch konkretes Tun.[6]
7. Schone ich ihn als Helfer, weiß ich nicht, wie seiner Rebellion entgehen oder wie nicht von Gott abfallen unter dem Gewicht der Fesseln, die mich nach unten ziehen und festhalten am Boden. Er ist ein gutmütiger Feind und ein listiger Freund. O welch ungleiches Gespann,  welche Fremdheit zwischen beiden! Was ich fürchte, das pflege ich, und was ich liebe, das fürchte ich. Noch bevor ich in den Krieg ziehe, versöhne ich mich, und noch bevor ich Frieden schließe, bin ich wieder entzweit. Was ist diese seltsame Weisheit, die mich umgibt? Was dieses große Mysterium?
Will Gott vielleicht, da wir Sein Anteil sind und von oben stammen, dass wir  auf Grund des Kampfes und Ringens mit dem Leib immerdar zu Ihm hin schauen, damit wir uns nicht wegen unserer Würde[7] überheben und hochmütig werden und den Schöpfer verachten möchten, sondern mit Hilfe der uns beigesellten Schwäche erzogen werden zum rechten Umgang mit der Würde? Damit wir uns selbst erkennen als zugleich Höchste und Niedrigste, als gleichzeitig Irdische und Himmlische, Vergängliche und Unsterbliche, Erben sowohl des Lichts als auch des Feuers oder auch der Finsternis, je nachdem, zu welchem wir hinneigen?
Dies ist die Mischung, aus der wir bestehen, und dies ist der Grund, so glaube ich, weshalb wir, wenn wir uns überheben des Gottesbildes wegen, durch den Staub gedemütigt werden. Hierüber sinne nach, wer es will, und  wir selbst werden zu einem gelegeneren Zeitpunkt darauf zurückkommen.

Das schreckliche Elend der Aussätzigen
8. Jetzt aber wollen wir wieder dort anknüpfen, wo das Wort mich abschweifen ließ aus  Schmerz über mein eigenes Fleisch und über meine Schwäche gegenüber den [dem Gottesbild] fremden Leidenschaften: Wir müssen, Brüder, dem zusammen mit uns Erschaffenen und Mitknecht [d.h. dem Körper] helfen. Habe ich ihn der Leidenschaft wegen auch als Feind bezeichnet, umarme ich ihn doch auch als Freund, und zwar Dessentwegen, Der uns  miteinander verbunden hat. Den Körpern unserer Mitmenschen aber sollen wir nicht weniger helfen als dem eigenen, sowohl den gesunden als auch denen, die verzehrt sind von jener Krankheit.
Denn alle sind wir eins im Herrn, sei einer reich oder arm,  Sklave oder Freier, gesund oder krank am Leibe (s. Röm 12,15). Und ein Einziger ist das Haupt aller, Er, aus Dem alles stammt, Christus (Kol 1,16-18). Und was die Glieder des Leibes füreinander sind, das ist ein jeder von uns für jeden anderen und alle zusammen für alle (s. 1 Kor 12,27; Röm 12,5). Deshalb dürfen wir diejenigen die von der unreinen Krankheit befallen sind, weder verachten, noch mit Gleichgültig-keit behandeln. Wir sollen uns weder freuen, weil es unseren Körpern wohl ergeht, noch bloß trauern, weil  jene unserer Brüder in elendem Zustand sind. Sondern laßt uns einsehen, dass es nur einen einzigen Schutz gibt für unser Fleisch und unsere Seelen – das Werk der Barmherzigkeit gegenüber jenen.
Untersuchen wir die Sache  genauer:

9. Die anderen Armen sind einer einzigen Sache wegen erbarmenswürdig, nämlich des Mangels am Lebensnotwendigen wegen, und dieser kann behoben werden, entweder mit der Zeit oder durch eigene Anstrengung oder dank der Hilfe eines Freundes oder Mitmenschen oder durch eine Änderung der Verhältnisse. Doch für die Aussätzigen – die nicht geringeren materiellen Mangel leiden als die anderen, sondern weit eher noch größeren, vermögen sie doch weder zu arbeiten noch sich selbst zu helfen – kommt zur materiellen Not noch der fortschreitende Zerfall des Fleisches, sodass der Schrecken der Krankheit für sie ungleich größer ist als die Hoffnung auf Besserung, und so finden sie geringe Hilfe bei der Hoffnung, die in der Regel die Arznei der Unglücklichen ist.
Zum Übel der Armut kommt für sie mithin das zweite Übel jener Krankheit, das weit schlimmer und schwerer zu ertragen ist und das deshalb von vielen mit großer Leichtfertigkeit anderen als Fluch angewünscht wird. Das dritte Übel ist, dass sie zu Unberührbaren werden, zu solchen, die die Mehrheit der Menschen nicht einmal mehr zu erblicken wünscht, sondern vor ihnen flieht, Ekel empfindet vor ihnen  und sie verstößt. Schlimmer noch in der Tat als die Krankheit selbst ist für sie, zu spüren, dass man sie ihres Unglücks wegen auch noch haßt.
Was mich betrifft, so kann ich angesichts ihres Leids nicht ohne Tränen bleiben, und selbst der Gedanke an sie erschüttert mich. Möge dies auch euch geschehen, damit ihr durch die Tränen den Tränen entgehen möchtet. Und ich weiß, dass dies all denen unter euch geschieht, die Christus und die Armen lieben, das heißt denen, die Gott angehören, von Dem sie auch die Gnadengabe empfangen haben, sich zu erbarmen. Auch ihr mithin seid Zeugen jener Pein.

10.   Unseren Augen bietet sich ein schrecklicher und erbarmenswürdiger Anblick, unglaublich für alle außer denen, die ihn kennen: Menschen, die zugleich tot sind und leben, verstümmelt an den meisten Teilen ihres Körpers, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sodass nicht mehr auszumachen ist, wer sie vormals waren oder noch bis vor kurzem gewesen sind. Genauer gesagt, elende Überreste von Menschen, die sich selbst gegenüber Bekannten nur noch durch den Hinweis auf Vater, Mutter, Geschwister und Herkunftsort identifizieren können, indem sie sagen: "Ich bin der Sohn von Soundso", oder: "Die und die ist meine Mutter, und dies ist mein Name, und du warst einst mein Freund und Bekannter." Dazu sind sie genötigt, weil ihnen ihre früheren Erkenntnismerkmale abhanden gekommen sind.
Verstümmelte Menschen, entblößt von allem, vom Lebensnotwendigen, von Verwandten, von Freunden und sogar noch von ihrem eigenen Leib. Menschen, die völlig vereinsamt sind, von allen verlassen, und sich selbst zugleich bemitleiden und hassen. Sie wissen nicht, worüber sie mehr trauern sollen – über die Körperteile, die sie nicht mehr haben, oder über jene, die ihnen noch verblieben sind. Über jene, die die Krankheit bereits aufgezehrt hat, oder über jene, die ihr noch aufzuzehren bleiben. Der Verlust der ersteren ist zwar ein Unglück, doch das Übrigbleiben der anderen ist ein noch größeres Unglück, denn während jene noch vor dem Grab  verschwunden sind, wird für diese hier niemand sich finden, der sie ins Grab legen wird. Denn den Aussätzigen gegenüber bleibt selbst der gütigste und mildtätigste Mensch zur Gänze ungerührt.
Und wäre es nur hier, wo wir vergessen, dass wir Fleisch sind und umhüllt vom Leib der Erniedrigung (Phil 3,21)! So sehr weichen wir zurück davor, unserem aussätzigen Mitmenschen zu helfen, dass wir solches Verhalten auch noch für Schutz unserer eigenen Körper halten. Mag es einer noch hinnehmen, sich einem verwesenden Toten, der bereits riecht, oder stinkenden Tierkadavern zu nähern oder sich mit übelriechendem Schlamm zu beschmutzen, so fliehen wir doch jene Menschen, so sehr wir können – o Unmenschlichkeit! –, und ertragen es nicht im geringsten, die gleiche Luft einzuatmen wie diese.
11.  Wer ist aufrichtiger besorgt als ein Vater? Wer mitfühlender als eine Mutter? Doch im Fall jener Menschen entfällt selbst das, was zur Natur gehört. Sein eigenes Kind, das er gezeugt und auferzogen hat, das er für den Augapfel seines Lebens hielt, um dessentwillen er oftmals und in vielen Dingen zu Gott betete, treibt der Vater, wenn auch mit Schmerzen, weg von sich, zum Teil freiwillig, zum Teil unter Zwang.
Und die Mutter erinnert sich zwar an die Wehen der Geburt und ihr Herz zerbricht, da sie ihr Kind aussetzt und das Lebende betrauert, als wäre es schon tot, indem sie ihm jämmerlich zuruft: "O Kind einer unglücklichen und elenden Mutter, das mir die Krankheit auf bittere Weise entreißt, du erbarmenswertes Kind, o Kind, das niemand mehr kennen wird, o Kind, das ich für die Abgründe, die Bergwildnis und Einöde aufgezogen habe! Mit den wilden Tieren wirst du zusammenhausen, der Fels wird dein Obdach sein, und von den Menschen werden nur die Gottesfürchtigsten dich noch besuchen!" Und diesen Klagen fügt sie jene Worte Hiobs hinzu: Warum wurdest du gebildet im Mutterleib und warum kamst du hervor aus dem Schoß, statt sogleich zu sterben (s. Hiob 3,11),  damit mit der Geburt zugleich auch der Tod einhergehen möchte? Warum starbst du nicht vor der Zeit, noch ehe du die Übel dieses Daseins kosten mußtest? Warum nahmen Knie dich auf? Warum boten sich dir Brüste dar, um dich zu stillen (Hiob 3,12)  da du doch ein Leben des Elends leben solltest, ein Leben, das schlimmer ist als der Tod?"
Solches sagt sie und vergießt Ströme von Tränen. Und die Unglückliche möchte wohl ihr Kind umarmen, doch sie fürchtet dessen Fleisch wie einen Feind. Und so werden denn von der ganzen Öffentlichkeit verschrien und verfolgt nicht etwa solche, die Unrecht tun, sondern jene unglück-lichen Menschen. Selbst mit einem Mörder zusammenzuwohnen wird einer sich herbeilassen, oder einem Ehebrecher nicht  nur Obdach zu gewähren, sondern auch Gastfreundschaft bei Tisch, oder das Leben zu teilen mit einem Schänder von Heiligem oder mit solchen, die das ihnen gewährte Gute mit Bösem vergolten haben. Doch vom Kranken wendet man sich ab wie von einem Verbrecher, ohne sich im Geringsten zu erbarmen über ihn. 
Die Bosheit wird höher gestellt als die Krankheit. Die Unmenschlichkeit machen wir uns zu eigen als Garant unserer Freiheit,  das Mitleid aber verachten wir als etwas Untaugliches. 
12.  Sie [die Aussätzigen] werden vertrieben aus den Städten, sie werden vertrieben aus den Häusern, von den öffentlichen Plätzen, von den Strassen, sie werden ausgeschlossen von den Versammlungen, von den Festen, von den Symposien und sogar noch – o welches Leid! – vom Wasser. Weder zu den Quellen, die doch für alle strömen, haben sie Zugang wie die anderen Menschen, noch auch zu den Flüssen, da man glaubt, sie könnten auf diesem Weg andere anstecken.
Doch das Widersinnigste ist, dass wir sie einerseits als Hassenswerte vertreiben, sie aber andrerseits durch eben diese Erbarmungslosigkeit nötigen, abermals zu uns zurückzukehren, da wir ihnen weder Unterkünfte zur Verfügung stellen, noch die benötigte Nahrung, noch Pflege für ihre Wunden, und da wir es unterlassen, durch geeignete Maßnahmen die Krankheit nach Möglichkeit einzudämmen.
Deshalb irren sie Tag und Nacht umher, mittellos, nackt, obdachlos, indem sie ihre Krankheit vorzeigen, das Vergangene erzählen, den Schöpfer anrufen, der eine gestützt auf den anderen, so wie es die einem jeden verbliebenen Glieder erlauben. So schleppen sie sich dahin und suchen das Mitleid der Gesunden, die sie um ein wenig Brot bitten oder um etwas Gekochtes oder um einen Fetzen Tuch zur Bedeckung ihrer Scham oder um etwas Linderndes für ihre Geschwüre. Und barmherzig ist in ihren Augen nicht nur jener, der ihnen solche Hilfe gewährt, sondern allein schon jener, der sie nicht mit Härte wegjagt.
Die meisten von ihnen aber lassen sich nicht einmal durch die Schmach fernhalten von Festanlässen, sondern versammeln sich dort im Gegenteil in großer Zahl, weil sie Mangel leiden. Ich rede hier von den öffentlichen heiligen Festen, die wir eingeführt haben zum Heil unserer Seelen, sowie von denen, wo ein Mysterium vollzogen wird oder wo wir der Martyrer der Wahrheit gedenken, um auch die Gottesfurcht jener nachzuahmen, deren Kämpfe wir ehren. Diese Kranken schämen sich zwar ihres Unglücks wegen, sind sie doch Menschen, und sie würden lieber verborgen bleiben in Bergen, Schluchten und Wäldern oder letztendlich in Nacht und Finsternis, doch immer wieder werfen sie sich in die Menschenmenge, wie eine unerträgliche und beweinenswerte Last. Dies geschieht vielleicht auch aus dem Grund, dass sie uns erinnern sollen an unsere Schwäche und uns überzeugen möchten, uns nicht an Vergängliches zu klammern, an irgendein Ding dieser gegenwärtigen, sichtbaren Welt, so als hätte es Bestand. Sie werfen sich in die Menschenmenge,  weil sie sich entweder sehnen, wieder einmal eine menschliche Stimme zu hören oder ein menschliches Gesicht zu sehen, oder weil sie von den Feiernden etwas Nahrung für ihr Überleben sammeln möchten, alle aber, um ihren Schmerz ein wenig zu besänftigen, indem sie ihn anderen bekanntmachen.
13. Wer würde nicht ins Herz getroffen durch ihre Wehklagen, vereint zu einem einzigen Trauerchor? Wer erträgt es, sie anzuhören? Wer hält ihren Anblick aus? Sie liegen da, gruppenweise, durch die Krankheit jammervoll zusammengebunden, jeder einen anderen Aspekt des Unglücks vorzeigend, um Mitleid zu wecken, jeder ein Zusatz zur Klage des anderen, erbarmenswürdig schon der eigenen Krankheit wegen, erbarmenswürdiger noch durch die Häufung des Leids so vieler.
Rund um sie stehen Zuschauer aller Art, die zwar Anteil nehmen an ihrem Schmerz, doch auf Zeit. Und die Kranken rollen sich vor den Füßen dieser Menschen, in der sengenden Sonne und im Staub, ein andermal  in grimmigem Frost, Regen und Sturm, und nur deshalb treten wir nicht auf sie, weil uns ekelt, sie auch nur anzurühren. Den heiligen Gesängen im Innern widerklingt der Jammer der Bittenden, den mystischen Botschaften widertönt die herzzerreißende Wehklage.
Doch weshalb dieses ganze Elend ausbreiten vor Menschen, die sich freuen an einem heiligen Fest? Vielleicht gelingt es mir, auch euch zu bewegen zur Wehklage, wenn ich euch das alles im Einzelnen vortrage, sodass die Trauer die Feststimmung besiegt. Ich sage euch mithin diese Dinge, weil es mir bisher nicht gelungen ist, euch zu überzeugen, dass Trauer zuweilen kostbarer ist als Genuß,  Niedergeschlagenheit heilsamer als Feststimmung und seliggepriesene Tränen  (s. Mt 5,4) besser als ungutes Lachen (s. Lk 6,25).
14.  Solches mithin und weit schlimmeres, als was ich beschrieb, erleiden unsere Brüder in Gott, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt – sie, die dieselbe Natur empfangen haben wie wir, die aus demselben Lehm gemacht sind, aus dem wir am Anfang geschaffen wurden, die aus denselben Sehnen und Knochen zusammengefügt sind wie wir und wie alle anderen gekleidet in Fleisch und Haut, wie irgendwo der göttliche Hiob sagt, da er nachsinnt über seine Leiden und unseren äußeren Menschen  aufs Korn nimmt (s. Hiob 10,11). Vor allem aber – um auch das Höhere zu nennen, sofern es noch nötig ist, darauf hinzuweisen – haben sie wie wir das Gottesbild empfangen, und vielleicht bewahren sie es sogar besser als wir, selbst wenn ihre Körper verunstaltet sind. Wie wir haben sie Christus angezogen in ihrem inneren Menschen und dasselbe Unterpfand des Heiligen Geistes empfangen, das auch uns anvertraut worden ist. Und sie haben mit uns zusammen Anteil an denselben Gesetzen, Verheißungen, Testamenten, Gottesdiensten, Mysterien und Hoffnungen. Auch für sie ist Christus gestorben, Er, Der hinwegnimmt die Sünde der ganzen Welt (s. Joh 1,29), und wie wir sind sie Erben des himmlischen Lebens – selbst wenn sie das irdische zum größten Teil verfehlt haben –, denn wie wir sind sie begraben worden mit Christus und  auferstanden mit Ihm (Kol 2,12, Röm 6,4ff), sofern sie gelitten haben mit Ihm, um verherrlicht zu werden mit Ihm (Röm 8,17).

Appell an das Gewissen der Christen,
insbesondere der Reichen
15. Wir jedoch, was tun wir, die wir den neuen Namen geerbt haben, die wir uns nach Christus benennen – wir, die heilige Nation, die königliche Priesterschaft, das auserwählte und vortreffliche Volk (s. 1 Petr 2,9), Zeloten guter und heilsamer Werke, wir, die Jünger Christi des Sanftmütigen und Menschenliebenden, Der unsere Schwächen auf Sich genommen und Sich erniedrigt hat bis hinab zu unserem Lehm, Der arm geworden ist um unsertwillen und dieses Fleisch, dies irdische Zelt angelegt und zu unserem Heil gelitten hat und schwach geworden ist, damit wir den Reichtum Seiner Göttlichkeit erlangen möchten (s. s. 2 Kor 8,9)?  Was ist mit uns, die wir ein solches Beispiel des Erbarmens und des Mitleids vor uns haben? Was empfinden wir für jene Menschen und was tun wir? Werden wir unseren Blick abwenden? Vorbeigehen an ihnen? Sie liegen lassen wie Tote, wie etwas Ekelhaftes, wie Schlangen und böses Getier?
Niemals, Brüder! Solches ziemt sich nicht für uns, die wir aufgezogen worden sind von Christus, dem guten Hirten, Der das verirrte Schaf zurückholt, das verlorene sucht und das schwache stärkt. Noch auch ziemt es sich für die menschliche Natur, die uns, belehrt durch die eigene Schwäche, das Mitleid, die Achtung für den anderen und die Nächstenliebe gebietet.
16. Während jene unter freiem Himmel schutzlos jeder Witterung preisgegeben sind, erfreuen wir uns prachtvoller Häuser, geschmückt mit Marmor und Edelsteinen jeder Art, mit glänzendem Gold und Silber, mit fein gearbeiteten Mosaiken und farbenreichen Malereien zur Täuschung und Verlockung der Augen? In den einen wohnen wir, andere erbauen wir. Doch für wen? Vielleicht nicht einmal für unsere Erben, sondern für Fremde und Unbekannte, für solche, die uns vielleicht gar nicht lieben, sondern erfüllt sind von Feindschaft und Neid, dem letzten Übel.
Derweil jene Ärmsten draußen vor Kälte zittern, notdürftig bedeckt mit irgendwelchen härenen Fetzen, wenn nicht gar ohne jede Bedeckung, verwöhnen wir uns selbst mit weichen und wallenden Kleidern, mit feinsten Leinen- und Seidenstoffen, die uns weit eher häßlich machen als schön? Denn als häßlich gilt mir alles Überflüssige und Unnötige. Wir stapeln auf in Kästen, was Gegenstand unnützer und törichter Sorge ist und zum Fraß der Motten wird sowie der alles verzehrenden Zeit, während jene  Menschen nicht einmal die nötige Nahrung haben?
Ich selbst schwelge im Überfluß und überlasse jene der letzten Entbehrung? Werden sie vor unseren Türen liegen bleiben, erschöpft und ausgehungert, entblößt sogar noch von der Möglichkeit des Bettelns, weil ihr Körper keine Stimme mehr hat, um zu bitten, noch auch Hände, um sie flehend auszustrecken, oder Füße, um hinzutreten zu denen, die haben? Ohne Atem gar, um ihr Leid durch Jammern auszudrücken? Müssen sie soweit kommen, dass sie das schwerste aller Übel, die Blindheit, als das leichteste erachten und den Augen als ihrem einzigen Körperteil danken, weil sie ihnen den Anblick ihrer Verstümmelung ersparen?

17. Während es jenen so ergeht, ruhen wir prächtig auf hohem und stolzem Lager, gehüllt in überflüssige Umhänge von unerschwinglicher Kostbarkeit, und  ärgern uns, wenn nur schon ein Ton ihres Flehens an unser Ohr dringt. Unser Boden muß von Blumen duften, und dies oftmals auch außerhalb der Jahreszeit, die Tafel muß begossen sein mit wohlduftenden Essenzen, und zwar den erlesensten und teuersten, damit wir noch effeminierter werden. Uns zur Seite wollen wir Diener haben, in Schmuck und Zier, das Haar locker herabfallend nach Frauenart, das Gesicht mehr zurechtgemacht als sich ziemt, mit Augen, die lüsterner sind als gut ist, damit uns die einen mit Fingerspitzen die Weinkelche reichen, mit größtmöglicher Grazie und Sorgfalt, die anderen aber über unseren Häuptern Wind machen mit Fächern und durch die Bewegung ihrer Hände nicht nur Kühlung schaffen für die Fülle unseres Fleisches, sondern überdies die Tafel in Fülle mit Fleisch versehen, sodass wir reichlich versorgt sind mit allen Elementen der Natur – Luft, Erde, Wasser.
Dabei beschweren wir uns noch über die Zubereitungen der Köche und Bäcker und teilen Schelte aus an alle, in der überragenden Sorge, unseren undankbaren Bauch zufriedenzustellen, jene schwere und unheilstiftende Last, jenes unersättliche Untier, dem keiner vertrauen kann und das doch dereinst abgeschafft werden wird mitsamt den Speisen (1 Kor 6,13).
Während jene Kranken draußen sich glücklich schätzen würden, auch nur an Wasser satt zu werden, trinken wir aus unseren Weinkrügen bis zur Berauschung oder gar, was die Ausschweifenderen betrifft, bis zur Besinnungslosigkeit. Und von den Weinen weisen wir den einen als minderwertig zurück, während wir den anderen als blumig rühmen und uns in tiefsinnigen Betrachtungen ergehen über einen anderen, wobei  wir es als Verlust einschätzen, wenn uns außer den einheimischen Sorten nicht auch, gleichsam als Krönung, eine der renommiertesten unter den fremden zur Verfügung stehen. Denn wir wollen in Üppigkeit schwelgen und mehr haben, als nötig ist, oder zumindest als solche gelten, geradeso als wäre es eine Schande, nicht als schlechte Menschen angesehen zu werden, als Diener des Bauchs und dessen, was unterhalb des Bauches ist.

Die Krankheit der Leidenschaften
ist schlimmer als der Aussatz
18. Warum solches, o Freunde und Brüder? Warum kranken auch wir, nämlich an der Seele und zwar an einer Krankheit, die weit schlimmer ist als jene der Körper? Denn was den Aussatz betrifft, so weiß ich, dass er unfreiwillig ist, diese Krankheit aber kommt durch unser eigenes Wollen, und während jener mit dem gegenwärtigen Leben endet, begleitet uns diese, wenn wir ausziehen aus dieser Welt. Jener weckt Erbarmen, diese aber Abscheu, bei jenen Menschen zumindest, die bei Sinnen sind.
Warum helfen wir nicht unserer Natur, solange wir noch Zeit haben dazu? Warum stehen wir der Schwäche des Fleisches nicht bei, die wir doch selbst Fleisch sind? Warum schwelgen  wir in Genüssen, während unsere Brüder im Elend sind? Gott bewahre, dass ich mich bereichere, während jene Mangel leiden, dass ich es mir gut gehen lasse, ohne ihre Wunden zu pflegen, dass ich genug zu essen und ein Obdach habe und unter einem Dach ruhe und es zugleich unterlasse, ihnen nach Kräften Brot und Kleidung und Erholung unter meinem Dach zu verschaffen!
Laßt uns alles Christus übergeben, um Ihm auf authentische Weise nachzufolgen, indem wir das Kreuz auf uns nehmen und entledigt von aller Schwere uns mit Leichtigkeit emporschwingen zur oberen Welt, in rechter Weise vorbereitet, sodass nichts mehr uns hinabziehen kann. Anstelle aller Dinge laßt uns Christus gewinnen, aufsteigen werden durch Niedrigkeit und reich werden durch Armut. Oder dann laßt uns alle Besitztümer mit Christus teilen, damit das Haben geheiligt werde durch das rechte Haben, und den Nichthabenden Anteil geben daran.
Habe ich aber nur für mich selbst gesät, dann habe ich zwar gesät, doch die Früchte werden andere essen. Oder um abermals Hiob zu zitieren: „...dann mögen mir Nesseln aufsprießen statt Weizen und Dornen statt Gerste“ (Hiob 31,40). Dann möge der heiße Südwind blasen und Sturm meine Mühen vernichten, damit offenbar werde, dass meine Mühen umsonst waren. Und habe ich überdies Scheunen gebaut mit Hilfe des Mammons, um weiteren Mammon anzuhäufen, so möge noch in dieser Nacht meine Seele gefordert werden (s. Lk 12,20), damit ich Rechenschaft ablege über das, was ich auf üble Weise angehäuft habe

Die Unbeständigkeit alles Irdischen und Menschlichen
19. Werden wir nicht zur Besinnung kommen, sei es auch spät? Werden wir unsere Hartherzigkeit, um nicht zu sagen Kleinlichkeit, nicht endlich ablegen? Werden wir nicht das Menschliche erwägen? Werden wir nicht am Unglück der anderen erkennen, was auch uns selbst widerfahren könnte? Denn es liegt in der Natur der menschlichen Angelegenheiten, dass nichts gewiß ist an ihnen oder reibungslos oder unabhängig von anderen Faktoren und in sich selbst gefestigt. Vielmehr bewegt sich das, was uns betrifft, in einem Kreis, der oftmals innerhalb eines einzigen Tages, zuweilen aber auch innerhalb einer einzigen Stunde große Änderungen bringt.
Besser ist, den wechselhaften Winden zu vertrauen oder den Spuren eines Schiffes auf dem Wasser oder den trügerischen Träumen der Nacht, deren Reiz nur eine kurze Weile dauert, oder dem, was Kinder spielend in den Sand zeichnen, als dem menschlichen Glück.  Besonnen sind diejenigen, die sich, weil sie dem gegenwärtigen Dasein nicht vertrauen, Schätze sammeln für das künftige und in der Erkenntnis der Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit des menschlichen Wohlstands die Mildtätigkeit lieben, die nicht vergeht, um von drei Dingen zumindest eines zu gewinnen – entweder dass sie nie Not leiden, denn den Gottesfürchtigen verschafft die göttliche Vorsehung oftmals auch Irdisches, zieht doch ihre Milde das göttliche Mitleid auf sich, oder dass sie, wenn sie leiden, Freimut haben vor Gott, insofern ihr Leid nicht von irgendwelchen bösen Taten herrührt, sondern von irgendeiner Fügung, oder schließlich dass sie  im Fall der Not  von den Mildtätigen milde Gaben verlangen können als etwas, worauf sie Anspruch haben, weil auch sie, als es ihnen gut ging, mit Einsicht solche milde Gaben an die Bedürftigen verteilten.

20.  Der Weise brüste sich nicht mit seiner Weisheit, sagt der Herr, noch auch der Reiche mit seinem Reichtum oder der Starke mit seiner Kraft (s. Jer 9,23), selbst dann nicht, wenn sie das Äußerste erlangt haben, der eine, was die Weisheit betrifft, der andere was den Besitz, der dritte was die Kraft.  Dem füge ich Folgendes hinzu: Noch auch brüste sich der Berühmte mit seinem Ruhm, der Gesunde mit seiner Gesundheit, der Schöne mit seiner Schönheit oder der Junge mit seiner Jugend. Kurz gesagt – niemand rühme sich irgendeines der Dinge, die in dieser Welt als etwas gelten und die bloß zur Aufgeblasenheit führen.
Sondern wenn einer sich schon rühmen muß, so rühme er sich allein, verständig zu sein und Gott zu suchen (s. Jer 9,24 / 1 Kor 1,31; 2 Kor 10,17) und zu leiden mit den Leidenden und so für sich etwas zu hinterlegen, was ihm von Nutzen sein wird für das künftige Leben Alles andere ist wechselhaft und vergänglich und fällt, wie die Steinchen beim Brettspiel der Kinder, bald dem einen, bald dem anderen zu.  Nichts in der Tat ist gewisser für denjenigen, der Irdisches besitzt, als dass er es verlieren wird, entweder beim Ablauf seiner Zeit oder schon früher durch den Neid. Die himmlischen Güter aber sind beständig und unvergänglich, und weder können sie je zugrundegehen, noch sich wandeln, und nie enttäuschen sie jene, die ihre Hoffnung auf sie gesetzt haben.
Doch auch aus einem anderen Grund noch, glaube ich, ist kein einziges der irdischen Güter gesichert für die Menschen und beständig – deshalb nämlich, weil der Schöpfer-Logos in Seiner jedes Begreifen übersteigenden Weisheit es zu Recht so gefügt hat, dass wir von den Sinnendingen zum Narren gehalten werden, indem sie uns bald diesen, bald jenen Wechsel bescheren, einmal auf den Gipfel führen, dann wieder in den Abgrund werfen und sich entziehen, bevor wir sie ergreifen können, und verschwinden, mit dem Zweck nämlich, dass wir uns, in der Erkenntnis ihrer Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit, den himmlischen Gütern zuwenden möchten. Denn was würde aus uns werden, wenn unser Wohlergehen beständig wäre, wo wir uns doch schon in seiner Unbeständigkeit in solchem Maß an dasselbe klammern, dass dessen Genuß und Täuschung uns völlig versklavt und unfähig gemacht haben, etwas Besseres und Höheres als das Gegenwärtige zu erfassen, und dies obwohl wir gelehrt wurden und glauben, dass wir nach dem Bilde Gottes erschaffen wurden, das in den Höhen ist und uns hinaufzieht zu sich?


Selig wer die Unterscheidung besitzt
und dem Schein das Sein vorzieht
21. Wer ist  weise, dass er dies begreift? (Os 14,10). Wer wird vorübergehen an dem, was vergeht? Wer wird verharren bei dem, was bleibt? Wer wird das, was gegenwärtig ist, als entschwindend erkennen? Wer wird einsehen, dass das Erhoffte schon da ist? Wer vermag zu unterscheiden zwischen Sein und Schein, um dem ersteren zu folgen und  letzteren zu verachten? Zwischen irdischem Zelt und himmlischer Stadt? Zwischen Aufenthaltsort in der Fremde und ewiger Wohnstatt? Zwischen Finsternis und Licht? Morast des Abgrunds und  heiligem Grund? Fleisch und Geist? Zwischen Gott und dem Weltbeherrscher der Finsternis (Eph 6,12)? Zwischen Schatten des Todes und ewigem Leben? Wer ist weise und erkauft sich durch das Gegenwärtige das Künftige? Durch den flüchtigen Reichtum denjenigen, der niemals zerfließt? Durch die sichtbaren Dinge diejenigen, die man nicht sieht?
Selig in Wahrheit ist derjenige, welcher, all dies unterscheidend und voneinander trennend mit dem Schwert des Logos Gottes, welches das Bessere abtrennt vom Schlechteren, Aufstiege vollzieht in seinem Herzen, wie der göttliche David sagt (Ps 83,6), und indem er mit all seiner Kraft dieses Tal der Tränen flieht und das sucht, was oben ist (Kol 3,1). Der mit Christus zusammen der Welt gekreuzigt worden ist, mit Ihm zusammen aufersteht und auffährt in die Himmel, zum Erben des Lebens geworden, das ohne Wandel ist und ohne Trug.  Einen solchen vermag die Schlange nicht mehr zu beißen auf dem Weg. Sie kann ihn nicht mehr treffen an der Ferse, um ihrerseits von ihm getroffen zu werden am Kopf (s. Gen 3,15).
Uns anderen aber ruft David als Künder mit mächtiger Stimme aus der Höhe mit Recht jene für alle Welt geltende Botschaft zu, in der er uns als Schwerfällige von Herzen bezeichnet, als solche die die Lüge lieben, und uns aufruft, uns nicht solchermassen an das Sichtbare zu klammern und nicht unser ganzes Glück hienieden an die bloße Sättigung mit Brot und Wein zu hängen (s. Ps 4,3ff).
Dasselbe will auch der selige Michäas sagen, wenn er sich dagegen wendet, die niedrigen Dinge als Güter zu betrachten. "Nähert euch", sagt er, "den ewigen Bergen. Steh auf und mach dich auf den Weg, denn es gibt hier kein Ausruhen für dich" (Mich 2,9-10). Dies ist fast buchstäblich dasselbe, was unser Herr und Erlöser gebot, als Er sagte: "Steht auf, laßt uns aufbrechen von hier" (Joh 14,31), womit Er nicht nur die damaligen Jünger zum Aufbrechen  aufforderte und dies nicht nur von jenem Ort, wie man meinen könnte, sondern immerdar und alle Seine Jünger zieht Er damit von dieser Erde und vom Irdischen hinauf in die Himmel und zu den himmlischen Dingen.
22.   Folgen wir mithin dem Logos, streben wir nach der dortigen Erquickung, entledigen wir uns des hiesigen Besitzes und behalten wir nur, was gut ist, um unsere Seelen zu erkaufen mit Almosen und die Bedürftigen zu versorgen mit dem Notwendigen, damit wir reich werden möchten an himmlischen Gütern.
Gib auch der Seele Anteil und nicht nur dem Fleisch. Gib auch Gott Anteil und nicht nur der Welt. Nimm etwas weg vom Bauch und gib es dem Geist. Entreiß etwas dem Feuer und hinterleg es fern von der Flamme, die unten brennt. Beraube den Tyrannen und gib die Beute dem Gebieter in Obhut. Gib Anteil den Sieben, das heißt dem gegenwärtigen Dasein, doch auch den  Acht (Ekkl 11,2), das heißt dem künftigen Leben, das uns nach jenem aufnehmen wird. Gib auch Dem ein Weniges, von Dem du Vieles hast. Gib vielmehr alles Demjenigen, Der dir alles schenkt.


Alles gehört Gott

Niemals wirst du Gottes Großzügigkeit übertreffen können, selbst wenn du alles gibst, was du hast, selbst wenn du dich selbst hinzugibst zu allem. Denn sich Gott übergeben, bedeutet abermals empfangen. So viel du auch darbringst, immerdar ist das Fehlende noch größer. Du gibst ja nie dein Eigenes, hast du doch alles von Ihm. Geradeso wie keiner über den eigenen Schatten springen kann, weil dieser mit uns geht in unserem Voranschreiten und uns ständig voraus ist, und der Leib nicht über den Kopf zu steigen vermag, weil dieser stets an seiner Spitze ist, so auch ist es uns unmöglich, Gott zu übertreffen im Geben. Denn wir geben nichts, was nicht Sein wäre, noch auch mit einer Freizügigkeit, die der Seinigen nahe käme.
23.  Erkenne, woher du deine Existenz hast, das Atmen, das Nachsinnen über diese hohen Dinge, das Erkennen Gottes, das Hoffen auf das Reich der Himmel, die Gleichrangigkeit mit den Engeln, das Schauen der Herrlichkeit, jetzt zwar  wie in Spiegeln und Rätseln, dann aber in Vollkommenheit und aller Deutlichkeit (s. 1 Kor 13,12). Woher das Erhobenwerden zum Gottessohn und Miterben Christi, und ich wage zu sagen: zum Gott der Gnade nach! Woher kommt dir das alles und von Wem?
Oder, um auch das Geringere und Sichtbare zu nennen: Wer schenkte dir die Fähigkeit, die Schönheit des Himmels wahrzunehmen, die Bahn der Sonne, den Zyklus des Mondes, die Vielzahl der Sterne, die zwischen ihnen allen wirkende Harmonie und Ordnung,  zusammen-klingenden Saiten einer Harfe gleich, die Abfolge der Stunden, den Wechsel der Epochen, den Kreislauf der Jahreszeiten, die Tag und Nachtgleiche, die Gewächse der Erde, das Ziehen der Wolken, die Weite des Meeres, seine Stille und sein Toben, die Tiefe der Ströme und das Brausen der Winde? Wer gab dir den Regen, den Landbau, die Nahrungsmittel, die Gewerbe und Künste, die Dörfer, Städte und Länder, das gesittete Leben, den vertrauten Umgang mit deinen Mitmenschen? Wer gab dir die Tiere, die einen zur Zähmung und zum Einspannen ins Joch, die anderen zu deiner Nahrung?  Wer setzte dich als Herr und König über alles, was auf Erden ist?    
Und um nicht alles im Einzelnen aufzuzählen – wer hat dem Menschen all das geschenkt, was ihn heraushebt über alle anderen Geschöpfe? Ist es nicht Derjenige, Der jetzt von dir allem anderen voran Barmherzigkeit verlangt? Schämen wir uns nicht, nachdem wir von Gott so vieles empfangen haben und noch zu empfangen hoffen, Ihm nicht einmal dieses eine darbringen zu wollen, nämlich die Barmherzigkeit?
Während Er uns von den Tieren geschieden hat, indem Er uns als einziges Geschöpf auf Erden ehrte mit dem Geschenk der Vernunft, vertieren wir uns, verderben und verblenden uns selbst – oder wie ich es sonst nennen soll – durch das Schwelgen in Genüssen in solchem Maß, dass wir die Spreu mit dem Weizen vermischen und das oftmals auf üble Art Erworbene und das Körperliche höher stellen als uns selbst?

Warnung vor dem Zorn Gottes gegen die Habsüchtigen

Vormals gab es, wie uns die Mythen lehren, ein Geschlecht von Giganten, neben jenem der übrigen Menschen. Wollen auch wir höher sein und über den anderen Menschen stehen wie jene, wie Nimrod (s. Gen 10,8ff) oder das Geschlecht des Enak (s. Num 13,23), das einst Israel bedrängte, oder wie diejenigen, deretwegen die Flut kam und die Erde reinigte (Gen 6,5ff)? Und während Er, Der Gott ist und Gebieter aller, Sich nicht schämt, unser Vater genannt zu werden, verleugnen wir jene, die von derselben Gattung sind wie wir?
24.   Nein, o Freunde und Brüder, werden wir nicht schlechte Verwalter der uns geschenkten Gaben, damit wir nicht die Worte des Petrus hören müssen, der sagt: "Schämt euch, die ihr euch Fremdes angeeignet habt. Ahmt die Gerechtigkeit Gottes nach, und keiner wird bedürftig sein." [8]  
Plagen wir uns nicht mit dem Anhäufen und Hüten von Besitztümern, während andere geplagt sind von Not, damit uns nicht bittere Rüge und Verwarnung zuteil werde, einerseits vom göttlichen Amos mit den Worten: "Wohlan denn, ihr, die ihr sagt: 'Wann wird der Neumond vorübergehen, damit wir verkaufen können, und der Sabbat, damit wir unsere Schatzkammern öffnen können?'..." und das weitere, womit der Prophet den Zorn Gottes herabruft auf jene, die große und kleine Gewichte benutzen beim Wägen (s. Amos 8,5ff), und andererseits vom seligen Michäas, der ebenfalls das genüßliche Leben geißelt, denn Sattheit gebiert Frevel, und die Verschwendung anprangert, für die nur Betten aus Elfenbein, das edelste Salböl, das zarteste Fleisch von Kälbern und Zicklein frisch von den Weiden und den Herden gut genug ist, das nichtige Händeklatschen zum Klang der Zimbeln, vor allem aber die irrige Meinung, dass irgendetwas von alledem beständig sei und fortdauern würde (s. Amos 6,4-5).
Schlimmer noch als diese Dinge aber gilt dem Propheten, dass die Verschwender in keiner Weise Schmerz empfanden über den Zusammenbruch Josephs (Amos 6,6),[9] sondern weiter in ihren Genüssen schwelgten. Diese Anklage fügt er derjenigen des Übermaßes  hinzu.
Möge uns nicht heute dasselbe widerfahren! Möchten wir nicht dermaßen in Genüssen schwelgen, dass wir die Menschenfreundlichkeit Gottes verachten, Dem solches mißfällt, selbst wenn Er Seinen Zorn nicht sogleich und nicht entsprechend dem Ausmaß ihrer Bosheit herabbringt auf jene, die sündigen.

Gottes Vorsorge für alle ohne Unterschied.
Der Egoismus der Menschen Ursache aller Übel auf Erden
25. Laßt uns dem höchsten und ersten Gesetz Gottes folgen, Der regnen läßt über Gerechte und Sünder und die Sonne gleicherweise aufgehen läßt für alle (s. Mt 5,45), Der den Erdboden ausbreitet für alle Lebewesen auf dem Land, mit Quellen, Flüssen und Wäldern für alle, den Luftraum für die geflügelte Natur und die Gewässer für die Wassertiere. Allen schenkt Er in Fülle von allem, was unerläßlich ist für ihr Leben, ohne es zurückzuhalten durch irgendeine Macht, ohne es einzuschränken durch irgendein Gesetz, ohne es zu zertrennen durch irgendwelche Grenzen. Allen gemeinsam und in reichlichen Mengen hat Er diese Dinge gegeben, ohne irgendwen zu benachteiligen, sondern indem Er die Ehrengleichheit der Natur ehrte mit der Gleichheit der Gabe und so den Reichtum Seiner Güte zeigte.
Doch die Menschen gruben Gold und Silber aus sowie glitzernde Edelsteine, verfertigten kostbare Gewänder über den Bedarf hinaus und jedwelches andere, das Krieg, Rebellion und schlimme Tyrannei mit sich bringt. Sodann überheben sie sich, getrieben vom Unverstand, und schließen ihre unglücklichen Mitmenschen vom Erbarmen aus. Nicht einmal von ihrem Überfluß wollen sie etwas geben, um der Not anderer abzuhelfen – o welcher Mangel an Bildung! o welche Roheit![10] – , noch auch erwägen sie, wenn überhaupt etwas, dass Armut und Reichtum, Freiheit –oder was wir so nennen[11] – und Knechtschaft und dergleichen mehr im Menschengeschlecht erst zu einem späteren Zeitpunkt erschienen und zwar als Krankheiten, die zusammen mit der Bosheit hereinbrachen, sind sie doch Erfindungen dieser letzteren. Doch am Anfang war es nicht so, wie der Herr sagt (s. Mt 19,8). Vielmehr ließ Er, Der den Menschen erschuf am Anfang, denselben frei und selbstbestimmt, zurückgehalten durch nichts anderes als das Gesetz des Gebots, und reich im Paradies der Wonne. Das gleiche bestimmte Er und schenkte Er vermittels des ersten Menschen auch dem übrigen Menschengeschlecht Freiheit, die wahre, und Reichtum waren mithin gewährleistet allein durch das Halten des Gebots.  Knechtschaft und Armut aber kamen durch seine Übertretung.

Der Sturz des Menschen und seine Folgen.
Die Aufgabe des Christen in der gestürzten Welt
26. Seither herrschen Neid und Streit und die listige Tyrannei der Schlange, welche immerdar verführt durch die Lockung des Genusses und die Dreisteren aufreizt gegen die Schwächeren. So zerteilte sich das Menschengeschlecht in einander entfremdete Individuen, und der Adel der Natur wurde verstümmelt durch die Habsucht, die sich das Gesetz des Stärkeren zum Söldner nahm.
Du aber halte dir die ursprüngliche Rechtsgleichheit vor Augen und nicht die Aufspaltung, die nachher kam, nicht das Gesetz des Gewalthabers, sondern jenes des Schöpfers. Steh der Natur bei soweit wie deine Kräfte reichen, ehre die ursprüngliche Freiheit, achte dich selbst, deck zu die Blöße der menschlichen Gattung, hilf dem Kranken, tröste den Bedürftigen. Bist du gesund, mach den Schmerz des Kranken zu deinem eigenen, bist du reich, die Not des Armen, bist du nicht gestürzt, die Schmach des Gestürzten und Zerschmetterten. Bist du froh, die Trauer des Unfrohen, bist du begünstigt vom Glück, das Leid des vom Unglück Verfolgten.
Gib jedem etwas als Dankgeschenk an Gott, weil du einer von denen bist, die imstand sind, zu helfen, und nicht einer von denen, die der Hilfe bedürfen, weil du nicht auf die Hände anderer zu schauen brauchst, sondern andere auf die deinigen schauen. Sei reich nicht nur an irdischem Besitz, sondern auch an Gottesfurcht, nicht nur an Gold, sondern auch an Tugend, oder besser gesagt, an dieser allein. Übertriff den Nächsten an Adel, indem du dich als mildtätiger erweist. Werde dem Unglücklichen zum Gott, indem du das Erbarmen Gottes nachahmst.
27.  Denn keine andere Eigenschaft von Gott hat der Mensch so sehr wie das Tun von Gutem. Obwohl Gott größer ist im Wohltun und der Mensch geringer, tut es doch jeder im Maß seiner Kraft. Gott erschuf den Menschen, und nachdem Er ihn [der Übertretung wegen aus dem Paradies] vertrieben hatte, holte Er ihn wieder zu Sich. Deshalb verachte auch du nicht denjenigen, der gestürzt ist.
Gott zeigte höchstes Erbarmen,
– indem Er allen das Gesetz und die Propheten gab und noch vor diesen das natürliche, ungeschriebene Gesetz [des Gewissens], Prüfer unseres Tuns, das uns tadelt, unterweist und erzieht;
– indem Er am Ende Sich Selbst hingab als Lösepreis für das Leben der Welt (1 Tim 2,6; Joh 6,51);
– indem Er uns die Apostel schenkte, Evangelisten, Lehrer, Hirten, wunderbare Heilungen, Wunder und Zeichen, Rückkehr ins Leben, die Abschaffung des Todes als Siegeszeichen gegen den, der uns besiegt hatte, das Testament der Schatten, das Testament der Wirklichkeit,[12] Gnadengaben des Heiligen Geistes, das Mysterium des Heils im Neuen Bund.
Du mithin, sofern du auch zum Höheren befähigt bist und zu dem, was der Seele hilft – denn auch hierin hat Gott dich reich gemacht, so du es wolltest –, versäume nicht, dem Bedürftigen auch mit solchem zu helfen. Dies zuerst vielmehr gib, besonders demjenigen, der darum bittet, und noch bevor er bittet, indem du den ganzen Tag lang das Wort Gottes als Almosen und Darlehen verteilst und dich mit Sorgfalt bemühst, das Ausgeliehene wieder einzubringen mit dem Zins des geistigen Gewinns dessen, dem geliehen wurde, denn stets geht solcher Gewinn einher mit dem Wort, und  so werden sich allmählich die Samen der Gottesfurcht mehren in ihm.
Bist du aber zu solchem nicht imstand, dann hilf mit dem zweitbesten und geringeren und tu, was immer im Bereich deiner Kräfte ist. Reiche Nahrung dar, reich einen Flicken dar, bring Arznei herbei, verbinde Wunden, stell mitfühlende Fragen, ermuntere zur Geduld, sag ein aufrichtendes Wort, sei den Leidenden nahe.
Es wird dir dadurch nichts Schlimmes widerfahren. Du wirst nicht angesteckt werden durch die Krankheit, selbst wenn vollends zimperliche Menschen solches meinen, getäuscht durch nichtiges Gerede. Sie schieben solches weit eher vor, um entweder ihren Mangel an Gottesfurcht zu rechtfertigen oder Gottesfurcht vorzutäuschen, indem sie Zuflucht nehmen zur Angst, als wäre sie etwas großes und weises. Laß dich überzeugen von den Worten der Ärzte und ihren Gehilfen sowie von den Pflegern, die mit den Kranken zusammenwohnen und von denen keiner je in Gefahr geraten ist durch die Nähe zu ihnen.
Laß dir mithin, o Diener Christi, Gottesfreund und Menschenfreund, nichts Unedles zuschulden kommen, selbst wenn die Sache erschreckt und mißtrauisch machen kann, sondern faß Mut kraft des Glaubens. Möge das Erbarmen die Angst besiegen, die Gottesfurcht die Weichlichkeit. Möge sich den fleischlichen Gedanken die Frömmigkeit entgegenstellen. Mißachte nicht den Bruder, geh nicht vorüber an ihm, wende dich nicht ab von ihm wie von einem Fluch,  einem Greuel oder irgendetwas anderem, das man flieht und von sich tut. Glied ist er von dir, hat auch das Unglück ihn gebeugt. Dir an Gottes Stelle ist der Arme überlassen,  und wenn du erhobenen Hauptes an ihm vorüberschreitest, werde ich dich mit diesen Worten zu erweichen suchen: Du hast vor dir die Möglichkeit, eine menschenfreundliche Tat zu vollbringen, und läßt dich davon abhalten vom Teufel?

Keiner wiege sich in Sicherheit
28. Ein jeder, der auf dem Meer unterwegs ist, steht in Gefahr, Schiffbruch zu erleiden, und dies umso mehr, je tollkühner er dahinsegelt. Und ein jeder, der umhüllt ist von einem Leib, steht in Gefahr, die Übel des Leibes zu erleiden, und dies umso mehr, je hochmütiger er dahinschreitet, ohne auf jene zu achten, die vor ihm am Boden liegen.
Solange du günstigen Wind im Rücken hast, reich dem Schiffbrüchigen die Hand. Solange du gesund bist und reich, hilf demjenigen, dem es schlecht geht. Warte nicht, bis du aus eigener Erfahrung lernen mußt, wie schlimm die Unmenschlichkeit ist und wie wohltuend das Erbarmen für jene, die seiner bedürfen. Wolle nicht, dass Gott Seine Hand erhebe gegen jene, die mit hochgerecktem Nacken hinwegsehen über die Armen. Durch das Unglück der anderen laß dich belehren hierüber.
Gib dem Bedürftigen etwas, und sei es auch nur wenig, denn selbst das Wenige ist viel für den, dem es an allem fehlt, und auch für Gott, sofern das, was du gibst, dem entspricht, was du vermagst (s. Lk 21,1ff). Anstelle von Großem gib die Bereitwilligkeit. Hast du  gar nichts zu geben, gib Tränen. Denn machtvolle Arznei für den Leidenden ist das Mitgefühl, das aus der Seele kommt, und das aufrichtige Mitleiden lindert das Unglück in hohem Maß.
Für dich, o Mensch, kann der Mensch nicht weniger gelten als das Tier, hinsichtlich dessen dir das Gesetz gebietet, dass du es herausziehen sollst, wenn es in eine  Grube gefallen ist, oder zurückholen, wenn es sich verirrt hat (s. Deut 22,1ff). Wenn das Gesetz hiermit noch etwas Tieferes und  Verborgenes andeutet, das nicht offen gesagt ist, wie es bei den meisten dunklen und mehrdeutigen Stellen des Gesetzes der Fall ist, so bin nicht ich es, der dies wissen kann, sondern der Heilige Geist, Der alles ergründet und weiß (s. 1 Kor 2,10). Doch soweit ich es verstehe und soweit es zu tun hat mit meinem Thema, sagt die Schrift dies, um uns vermittels der kleinen milden Taten zu ertüchtigen zu den höheren und vollkommeneren. Denn wenn von uns schon die Mildtätigkeit gegenüber den vernunftlosen Tieren gefordert ist, wieviel mehr noch schulden wir solche gegenüber unseren Mitmenschen und in Ehre Gleichgestellten?

Gegen jene, die eine Vorbestimmung
zum Glück oder Unglück geltend machen
29.  Dies mithin lehren uns der Logos, das Gesetz und die einsichtigsten unter den Menschen, denen zufolge das Spenden von Wohltaten höheren Wert hat als das Empfangen von solchen und Barmherzigkeit wichtiger ist als Gewinn.
Doch was sagen über jene von uns, die sich für Weise halten? Damit meine ich jetzt nicht die Außenstehenden,[13] die sich zur Rechtfertigung ihrer Leidenschaften Götter erfunden haben, wie etwa den Kerdoos, [14] dem sie den ersten Rang zuteilen, und die, was noch schlimmer ist, zudem glauben, dass man den Dämonen zuliebe Menschen umbringen müsse, weshalb bei den Heiden die Unmenschlichkeit sogar zum Kult gehört und sie sich erfreuen an solchen Opfern und,  zu bösen Priestern und Mystagogen von Bösen geworden, auch ihre Götter zu erfreuen vermeinen.
Sondern es gibt leider auch unter den Unsrigen einige – und das ist wahrlich zum Weinen –, die so weit davon entfernt sind, mitzufühlen mit den Notleidenden und ihnen zu helfen, dass sie sie gar beschimpfen mit bitteren Worten und misshandeln und dabei Nichtiges und Leeres philosophieren, als solche in der Tat, die aus der Erde heraus reden (Is 29,4) und zur Luft sprechen und nicht zu verständigen Ohren, die gewohnt sind an göttliche Dogmen, erkühnen sie sich doch zu sagen: "Von Gott ist jenen bestimmt, zu leiden, von Gott ist uns bestimmt, glücklich zu sein. Wer bin ich, dass ich Gottes Ratschlüsse aufheben und mich anheischig machen könnte, gütiger zu sein als Er? Sie sollen leiden, geplagt sein, im Unglück leben. So ist es beschlossen worden."
Diese Leute sind Gottes Freunde nur, sofern ihnen dies erlaubt, ihre Almosen zurückzuhalten und sich gegen die Elenden zu benehmen wie dreiste Jugendliche. Dass sie in Wirklichkeit gar nicht glauben, das Glücklichsein sei ihnen von Gott zuteil geworden, zeigen sie mit aller Deutlichkeit durch das, was sie sagen. Denn wer könnte  auf solche Weise über die Bedürftigen denken, wenn ihm wirklich bewusst wäre, dass Gott der Spender ist von dem, was er besitzt? Wer weiß, dass er etwas von Gott empfangen hat, macht davon auch Gott gemäßen Gebrauch.

30.  Ob aber das Leiden jener Menschen von Gott kommt, ist keineswegs erwiesen, bringt  doch die Materie die Störung auch von alleine hervor, wie es beispielsweise bei den Ausflüssen geschieht. Und wer weiß, ob der eine bestraft wird mit Unheil und der andere belohnt mit Aufstieg, oder ob nicht etwa das Gegenteil geschieht, dass nämlich der eine seiner Bosheit wegen aufsteigt und der andere seiner Tugend wegen geprüft wird? Dass der eine höher hinaufsteigt, damit er auch elender herabstürze, nachdem er zuvor seiner ganzen  Schlechtigkeit gleichsam wie einer Krankheit freien Lauf gelassen hat, um hernach umso gerechter bestraft zu werden, während der andere wider Erwarten in Bedrängnis gerät, damit er wie Gold im Feuerofen geläutert werde von der Schlechtigkeit, die er noch in sich haben mag, wie gering sie auch sei. Denn vollkommen rein von Makel ist keiner, der der geschaffenen Natur angehört, wie wir  vernommen haben (s. Ps 142,2; Hiob 25,4), selbst wenn er völlig bewährt zu sein scheint.
Denn ein solches Mysterium finde ich in der Heiligen Schrift, und ich bräuchte viel Zeit, um all die Worte des Heiligen Geistes aufzuzählen, die mich zu diesem Gedanken führen. Doch wer vermöchte die Sandkörner der Meere zu zählen oder die Tropfen des Regens oder die Ausdehnung des Abgrunds zu messen? Wer vermöchte die Tiefe der allumfassenden Weisheit  Gottes zu ergründen, in der Er auch alles erschaffen hat und mit der Er alles regiert, so wie Er will und weiß? Es genügt, wenn wir wie der göttliche Apostel voller Bewunderung allein schon ihre Unerforschlichkeit und Unfaßbarkeit erkennen: "O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und des Wissens Gottes! Wie unergründlich sind Seine Ratschlüsse und wie unerforschlich Seine Wege!" (Röm 11,33), und: "Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt?" (Röm 11,34). Und Hiob sagt: "Wer ist bis zu den höchsten Höhen  Seiner Weisheit gelangt?" (s. Hiob 15,8). "Wer ist weise und begreift dies?" (Os 14,10; Ps 106,43), statt das Unmögliche zu wollen und zu messen versuchen, was jenseits des Meßbaren ist?
    
Das hohe Kunstwerk der göttlichen Vorsehung
und die Torheit der Schicksalsgläubigen
31. Möge ein anderer sich erkühnen und erdreisten in diesen Dingen, doch besser wäre, keiner tut es. Was mich betrifft, so zögere ich, die Züchtigung hienieden in jedem Fall der Bosheit zuzuschreiben und das Wohlergehen der Gottesfurcht. Es trifft zwar zu, dass zuweilen das Unglück dazu dient, die Bosheit der Bösen zu bremsen, und das Wohlergehen dazu, der Tugend der Milden den Weg zu ebnen, doch nicht immer verhält es sich so und nicht auf ewig, denn erst im künftigen Leben empfangen die einen den Lohn für die Tugend und die anderen die Strafe für die Bosheit. Wie die Schrift sagt, werden die einen auferstehen zum Leben, die anderen aber zum Gericht (s. Joh 5,29).
Die irdischen Geschehnisse jedoch sind von anderer Art und anders gelenkt. Alle sind ausgerichtet auf das Künftige, und auch das an ihnen, was uns unregelmäßig und ungeordnet scheint, ist durchaus regelmäßig und geordnet bei Gott, geradeso wie die Vorsprünge und Einbuchtungen der Körper, die Größe und die Kleinheit der Dinge, die Erhebungen und Vertiefungen der Erde zwar als Unregelmäßigkeiten und Mangel an Ordnung erscheinen mögen, aber gerade ihre Schönheit ausmachen, wenn man sie in ihrer wechselseitigen Beziehung und ihrer harmonischen Abstimmung aufeinander wahrnimmt. Auch das Material, das der Künstler bearbeitet, ist zunächst ungestalt und ungeordnet, bis es unter seinen geschickten Händen die vollendete Gestalt des Kunstwerks annimmt. Und wenn wir seine letztendliche Schönheit sehen, begreifen und bekennen auch wir, dass es sich um ein Kunstwerk handelt.
Gott ist in der Tat nicht ungeschickt wie wir, noch auch lenkt Er die Dinge ohne Ordnung, wie wir meinen, weil wir die Ursachen der Geschehnisse nicht begreifen.
32.  Muß ich ein Bild herbeiziehen, um unsere Verfassung zu veranschaulichen, dann würde ich sagen, wir sind nicht weit entfernt vom Zustand jener, die an Seekrankheit und Schwindel leiden und glauben, alles drehe sich, während in Wirklichkeit sie selbst es sind, die sich drehen. So auch jene, von denen hier die Rede ist. Denn sie wollen nicht wahrhaben, dass Gott weiser ist als sie, wenn Taumel sie ergreift ob irgendwelcher Geschehnisse. Noch auch wollen sie sich anstrengen, um den Grund für dieselben zu suchen – wird doch die Wahrheit nur demjenigen gegeben, der sich auch müht um sie (s. Mt 7,7) –, oder sich an solche wenden, die weiser und geistiger sind als sie, denn auch dies ist ein Geschenk der Gnade, und nicht allen ist die Erkenntnis gegeben. Ebensowenig wollen sie dieselbe erjagen durch Reinheit der Lebensführung oder Weisheit erbitten von der Weisheit Selbst. Sondern sie greifen – o Roheit! – zum Billigsten und behaupten lügnerisch, alles geschehe ohne Grund, weil sie selbst den Grund nicht kennen. So sind sie denn durch Unwissenheit zu Weisen geworden oder durch übergroße Weisheit, um es einmal so zu nennen, zu Unweisen und Unverständigen.
Von daher lehrten einige, alles geschehe durch Zufall und automatisch – in der Tat automatische und zufällige Gedanken! –, oder ersannen eine vernunftlose und unlösbare Macht der Gestirne, welche angeblich das uns Betreffende bestimmen, wie sie wollen, oder vielmehr gebunden durch Zwangsläufigkeiten, durch die Annäherung bzw. Entfernung gewisser Planeten und Fixsterne, durch die allgemeine Bewegung des Alls, die angeblich alles regiere. Noch andere bürdeten dem geplagten Menschengeschlecht mancherlei anderes auf, das sie sich ausdachten, und zerteilten die von ihnen unerkannte und unverstandene göttliche Vorsehung in verschiedene Lehren und Benennungen.
Es gibt aber auch solche, die die Vorsehung Gottes großer Mangelhaftigkeit bezichtigen, indem sie zwar anerkennen, dass sie das lenkt, was über uns ist, jedoch leugnen, dass sie hinabreiche bis zu uns Menschen, die ihrer doch am meisten bedürfen, geradeso als befürchteten sie, mit der Anerkennung der göttlichen Wohltaten für die vielen Gott als zu gütig darzustellen,  oder als hätten sie Angst,  Gott könnte ermüden, wenn Er Seine Wohltaten vielen spendet.
33.  Doch diese Leute sind, wie schon gesagt, zu Fall gekommen, nachdem die Vernunft sie zu Recht verlassen hat. Denn ihr unverständiges Herz, sagt die Schrift, verfiel in Eitelkeit (s. Röm 1,21ff). Indem sie vorgaben, Weise zu sein, wurden sie zu Toren und tauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes gegen irgendwelche Mythen und Schatten, mit denen sie die allumfassende göttliche Vorsorge beleidigen.     
Wir aber sollen weder selbst solche Ungeheuerlichkeiten ersinnen, schulden wir doch als  logische, vernunftbegabte Wesen und Diener des Logos Treue zu Demselben,[15] noch auch jene aufnehmen, die solches glauben, selbst wenn sie ihre absurden Gedanken und Lehren mit gewandter Zunge zum Ausdruck bringen und durch das Sonderbare locken. Sondern wir glauben, dass Gott der Schöpfer und Urheber von allem ist. Denn wie könnte das All existieren, wenn ihm nicht jemand das Sein gegeben und es zusammengefügt und geordnet hätte? Wir anerkennen auch die göttliche Vorsorge, welche dieses All zusammenhält und zusammenbindet. Denn der Schöpfer von allem ist notwendigerweise auch dessen Fürsorger. Wäre das All automatischem Geschehen überlassen,  wie das Schiff dem Sturm, müßte es sich auf Grund der Unbeständigkeit der Materie sogleich wieder auflösen und zerfallen und zurückkehren in die ursprüngliche Wirrsal und Ungeordnetheit.
Und was unsere menschlichen Angelegenheiten betrifft, so anerkennen wir, dass sie unter der Aufsicht und Lenkung Dessen stehen, Der unser Schöpfer oder, wenn du vorziehst, unser Bildner ist. Und dies obwohl unser Leben gekennzeichnet ist von Widrigkeiten, deren Ursachen wir nicht kennen und uns vielleicht auch deshalb verborgen bleiben, damit wir uns in Ehrfurcht beugen vor dem, was unfaßbar und über allem Verstand ist. Denn was leicht zu fassen ist, wird auch leicht verachtet. Doch was uns übersteigt, hält uns umso mehr zur Ehrfurcht an, je unbegreiflicher es ist. Und so werden wir gestärkt in der Sehnsucht nach dem, was all unser irdisches Begehren übertrifft.

Relativer Wert und Unwert
von Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut
34. Laßt uns daher weder die Gesundheit preisen in jedem Fall, noch die Krankheit des-gleichen verwerfen, weder unser Herz an den Reichtum hängen, wenn er fließt (Ps 61,11) – denn er fließt und zerfließt wieder, und wenn wir uns daran klammern, verschwindet mit ihm gleichsam auch ein Teil unserer Seele –, noch uns auflehnen gegen die Armut, als wäre sie das Schlimmste von allem, etwas Unannehmbares und Hassenswürdiges. Sondern erkennen  wir, dass Gesundheit ohne Einsicht verachtenswert ist, denn ihre Frucht ist die Sünde, Krankheit bei einem gottgefälligen Leben hingegen schätzenswert, haben doch viele den Sieg errungen durch sie, und vielleicht verbirgt sich unter den Kranken ein Hiob, der weit glücklicher zu preisen ist als die Gesunden, selbst wenn er seine Geschwüre schaben muß, selbst wenn er im Elend ist Tag und Nacht unter freiem Himmel, geplagt von seinen Wunden, seiner Frau und seinen Freunden (s. Hiob 2,7ff). Verwerfen wir auch den unrechtmäßig erworbenen Reichtum, dessent-wegen der Reiche zu Recht in den Flammen schmachtet, sodass er um einen einzigen Tropfen Wasser fleht, und preisen wir die glückliche und weise Armut, dank welcher Lazarus gerettet wird und den Reichtum der Erquickung im Schosse Abrahams erlangt (s. Lk 16,19ff).
35.  Auch aus folgendem Grund mithin halte ich es für notwendig, Barmherzigkeit zu üben gegen unsere Mitmenschen und den Bedürftigen zu helfen: um nämlich denjenigen den Mund zu stopfen, die so denken über diese Dinge, damit nicht ihr eitles Geschwätz den Vorrang habe und ihre Roheit auch uns zum Gesetz gemacht werde.
Allem voran aber laßt uns das göttliche Gebot vermehrt in Ehren halten, ebenso wie das gute Beispiel. Was ist das Gebot? Achtet auf die Beharrlichkeit und Unumwundenheit, mit der es verkündet worden ist. Denn die Menschen des Heiligen Geistes begnügten sich nicht damit, ein oder zweimal etwas zu sagen über die Bedürftigen, noch auch sagten die einen etwas und die anderen nichts, oder die einen mehr und die anderen weniger, als handle es sich hier nicht um eine überhaus wichtige und dringliche Sache. Sondern alle haben an erster Stelle oder zumindest an einer der ersten Stellen zur Hilfe an die Armen aufgefordert, und zwar ein jeder mit Eindringlichkeit, indem sie einmal ermahnten, ein andermal drohten, noch ein andermal tadelten. Zuweilen sprachen sie auch ihre Anerkennung aus für jene, die sich hervorgetan hatten im Guten, damit sie sich noch mehr befleißigen möchten darin, des Folgenden eingedenk:
"Des Elends der Armen und des Seufzens der Bedürftigen wegen stehe Ich nun auf", sagt der Herr (Ps 11,6). Wer erschrickt nicht beim Aufstehen des Herrn? Steh auf, o Herr mein Gott, möge Dein Arm sich erheben. Vergiß nicht der Bedürftigen (Ps 9,33). Beten wir, dieses Erheben möge ausbleiben. Begehren wir nicht, den Arm erhoben zu sehen gegen die Ungehorsamen, und noch weniger, ihn herabsausen zu sehen auf die Hartherzigsten unter ihnen. Anderswo wiederum sagt die Schrift: Er überhörte nicht den Schrei der Bedürftigen  (Ps 9,13), und: Nicht auf immer wird der Arme vergessen bleiben (Ps 9,19). Und: Seine Augen wachen über den Bedürftigen,  Seine Lider aber prüfen die Söhne der Menschen (Ps 10,4), wobei das Wachen der Augen  höher und bedeutsamer, das Prüfen der Lider hingegen sozusagen geringer und zweitrangig ist.

Der Barmherzige hilft auch sich selbst
36. Nun könnte jemand sagen: "Gegen das, was hier gesagt worden ist bezüglich der Armen und Bedürftigen, die Unrecht erleiden, habe ich nichts einzuwenden. Doch möge auch das Folgende dich anspornen zum Werk der Barmherzigkeit. Denn größer noch als die Hilfe, die der Wohlgestellte den zu Unrecht Leidenden spendet, von denen hier schon so lange die Rede ist, ist die Gnade, die er dafür empfängt."  Geradeso nämlich wie  derjenige, welcher den Bedürftigen mißachtet, dessen Schöpfer erzürnt (Spr 17,5), erweist derjenige, welcher dem Geschöpf beisteht, dem Schöpfer die Ehre.
Wenn du andrerseits hörst: Der Arme und der Reiche begegneten sich, denn beide hat der Herr erschaffen (Spr 22,2), so versteh das nicht etwa in dem Sinn, dass Gott den einen als Armen und den anderen als Reichen erschaffen hätte, damit du dich nicht noch mehr über den Armen erhebst. Denn es ist keineswegs gesagt, dass dieser Unterschied zwischen den beiden von Gott stammt. Was die Schrift sagt, ist vielmehr, dass beide gleicherweise Geschöpfe Gottes sind, selbst wenn das Äußerliche ungleich ist. Dies soll dich erweichen und zum Mitgefühl und zur Bruderliebe bewegen, damit sie dich, wenn die äußeren Dinge dich zur Überheblichkeit verleiten, zurückhalten und mäßigen möchten.
Was noch? Wer sich des Armen erbarmt, leiht Gott, sagt die Heilige Schrift (Spr 19,17). Wer wird nicht gern einem solchen Schuldner leihen, Der das Darlehen zur gegebenen Zeit mit Zinsen zurückzahlen wird? Und wiederum: Durch Taten der Barmherzigkeit und des Glaubens werden  Sünden weggewaschen (Spr 15,27).
37.  Reinigen wir uns mithin, indem wir uns erbarmen, entschlacken  wir unsere Seelen mit Hilfe der guten Heilpflanze von Schmutz und Verunreinigungen. Werden wir weiß, die einen wie Wolle, die anderen wie Schnee (s. Is 1,18), entsprechend dem Maß unserer Barmherzigkeit.
Ich will auch etwas sagen, das uns größere Furcht gebieten sollte. Hast du in dir nichts Zerbrochenes (s. Ps 50,19), nichts Zerquetschtes, keinerlei eiternde Wunde (s. Ps 37,6), keinen Aussatz der Seele, keinen Befall oder glänzendes Mal (s. Lev 13,2ff), die zwar vom Gesetz einigermaßen entfernt worden sind, aber zur vollständigen Heilung Christi bedürfen, dann zeige Ehrfurcht gegenüber Ihm, Der um unsertwillen verwundet und schwach geworden ist. Und Ehrfurcht zeigst du Ihm, wenn du dich milde und menschenfreundlich erzeigst gegenüber demjenigen, der Glied Christi ist.
Sollte dich aber der Räuber und Tyrann unserer Seelen in solchem Maß verwundet haben – sei es auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho, sei es an einem anderen Ort, wo er dich unbewaffnet und unvorbereitet traf –, dass du zu Recht sagen kannst: Es stanken und faulten meine Wunden, meiner Torheit wegen (Ps 37,6), wenn du dich mithin in einen solchen Zustand befindest, dass du nicht einmal mehr Heilung suchst, noch auch weißt, wie du geheilt werden kannst, dann wehe in der Tat dieser Wunde und dem tief reichenden Elend!
Bist du aber noch nicht vollends verzweifelt und in einen unheilbaren Zustand geraten, dann  tritt herzu zum Arzt, bitte Ihn und heile die Wunden durch die Wunden,[16] erwirb Gleiches durch Gleiches, oder genauer gesagt, heile durch das Kleinere das Größere. Dann wird Er zu deiner Seele sagen: "Das Heil deiner Seele bin Ich" (Ps 34,3), und: "Dein Glaube hat dich gerettet" (Mt 9,22), und: "Siehe, du bist gesund geworden" (Joh 5,14) und alle anderen Worte Seiner Barmherzigkeit, wenn Er nur sieht, dass du den Leidenden Barmherzigkeit erweist.
38.  "Selig die Barmherzigen" sagt der Herr, "denn sie werden Erbarmen finden" (Mt 5,7). Unter den Seligpreisungen steht die Barmherzigkeit keineswegs an geringer Stelle. Anderswo  heißt es: Selig derjenige, der sich der Armen und Bedürftigen erbarmt (Ps 37,6), und: Gut ist der Mann, der sich erbarmt und leiht (Ps 111,5), ferner: Den ganzen Tag lang erbarmt sich und leiht der Gerechte (Ps 36,26). Ergattern wir die Seligpreisung, kommen wir zur Einsicht, damit auch wir selig gepriesen werden möchten. Werden wir zu Guten.
Selbst von der Nacht laß dich nicht unterbrechen im Werk der Barmherzigkeit. Sag nicht: "Geh und komm wieder, morgen werde ich dir geben" (Spr 3,28), damit sich nicht irgendetwas zwischen deine Bereitschaft und die gute Tat schiebe. Die Nächstenliebe ist das einzige, was  keinen Aufschub duldet. Speise den Hungernden mit deinem Brot, obdachlose Arme führe in dein Haus, und dies mit Bereitwilligkeit (Is 58,7). Denn wer sich erbarmt, sagt die Schrift, tue es mit Freude (Röm 12,8). Mit deiner Bereitwilligkeit verdoppelt sich deine gute Tat. Doch was mit Bedauern und ungern getan wird, ist glücklos und unschön. Ein Fest soll  für uns das Wohltun sein und nicht ein Anlaß zur Betrübnis.
Wenn du, wie geschrieben steht, die Fessel der Ungerechtigkeit löst (s. Is 58,6) und jede ungerechte Absprache – was ich hier verstehe als kleinliche Berechnung und Versuchung,  Zweifel auch und Murren –, was wird geschehen? Großes in der Tat und Wunderbares! Wie kostbar und erhaben ist der Lohn hiefür! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie der erste Sonnenstrahl, und deine Heilung wird alsbald folgen (Is 58,8). Und wer sehnt sich nicht nach Licht und nach Heilung?

Hilfe an die Armen ist für den Christen Gesetz
39. Zur Ehrfurcht bewegt mich  jedoch auch die Armenkasse Christi (s. Joh 12,7), die uns zur Speisung der Bedürftigen mahnt. Ebenso die übereinstimmende Haltung des Petrus und des Paulus, die, obwohl sie getrennt voneinander das Evangelium verkündeten, gemeinsam für das Wohl der Armen sorgten (s. Gal 2,9-10). Ferner das Wort des Herrn an den Jüngling über die Vollkommenheit, womit Er klarstellt und zum Gesetz macht, dass dieselbe darin besteht, seine Habe den Armen zu geben (s. Mt 19,16ff).
Meinst du vielleicht, das Werk der Barmherzigkeit sei für dich nicht Pflicht, sondern freie Wahl? Nicht Gesetz, sondern Empfehlung? Auch ich selbst wollte sehr, dass es sich so verhalte, und meinte auch, so sei es. Doch mich erschrecken das Stehen zur Linken und die Böcke (s. Mt 25,31-46) sowie das Urteil, das über sie gesprochen werden wird vom Richter, denn dieser Platz ist ihnen zuteil geworden nicht etwa, weil sie geraubt oder geplündert oder die Ehe gebrochen oder irgendetwas anderes getan hätten von den verbotenen Dingen, sondern allein deswegen, weil sie es versäumt haben, Christus zu dienen in den Armen.
40.  Wenn ihr mir mithin glauben wollt, o ihr Knechte Christi und Brüder und Miterben – solange noch Zeit ist, laßt uns Christus besuchen, laßt uns Christus pflegen, laßt uns Christus speisen, laßt uns Christus bekleiden, laßt uns Christus aufnehmen unter unserem Dach, laßt uns Christus ehren. Nicht nur mit einer Festtafel, wie einige es taten (s. Lk 7,36), nicht nur mit kostbarem Salböl wie Maria (s. Joh 12,3), nicht nur mit einem Grab wie Joseph von Arimathäa, nicht nur mit Begräbnisausstattung wie Nikodemus, der vom halben Jünger zum Freund Christi wurde (s. Joh 3,1ff; 19,38ff), nicht nur mit Gold, Weihrauch und Myrrhe wie vor diesen allen die Magier (s.Mt 2,11). Sondern weil der Gebieter aller "Erbarmen und nicht Opfer" will (Mt 9,13; Os 6,6), und den Myriaden fetter Lämmer das Mitleid vorzieht, laßt uns Ihm dasselbe darbringen vermittels der Bedürftigen, die heute am Boden liegen, damit sie uns dereinst, wenn wir ausziehen aus diesem Dasein, in den ewigen Wohnstätten empfangen möchten, in Christus Selbst, unserem Herrn, Dem die Herrlichkeit gehört in die Ewen. Amen.

Quelle: www.prodromos-verlag.de


[1] Dies ist die 14. der 46 erhaltenen Homilien des hl. Gregor des Theologen (330-390, s. Das Synaxarion am 25. Januar). Er hielt sie um 370 in Cäsarea in Kappadokien. Die "Homilie über die Liebe zu den Armen" ist eine anschauliche Darlegung orthodoxer Gesellschaftslehre. Sie zeigt die unverminderte Aktualität der Lehren der Heiligen Väter, gründen diese doch auf dem zeitlosen Wort Gottes, und wenn die heutigen Zustände sich in äußerlichen Einzelheiten unterscheiden mögen von den damaligen, sind sie doch in ihrem Wesen dieselben.  Griech. Originaltext unter dem Titel Περι  φιλοπτωχίας in EPE GregTheol Bd. 5. Deutsche Übers. vom Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers, Chania 2011.
[2] Das Wasser war nämlich von seinen Kampfgenossen unter Lebensgefahr aus dem von den Fremdstämmigen besetzten  Bethlehem hergebracht worden für ihn.
[3] Gr. ἀσσάριον, kleine Münze der Antike. Diese Einzelheit aus dem Leben des Apostels Petrus schöpft der hl. Gregor aus einer Überlieferung, die nicht niedergeschrieben ist in der Hl. Schrift.  
[4] Mit "Praxis" bezeichnen die Heiligen Väter die der Gottesschau notwendigerweise vorausgehende Phase der Befreiung von den Leidenschaften durch das Halten der Gebote Christi, durch Askese und Gebet.
[5] Gemeint sind die Aussätzigen.
[6] Gr. διὰ τῶν πράξεων. Siehe Fußnote 4.
[7] Als Träger des Gottesbildes.
[8]  Außerbiblische Überlieferung von Worten des Apostels Petrus.
[9]  Mit "Joseph" ist das Nordreich von Israel gemeint (Hauptstadt Samaria), das im letzten Viertel des 8. Jh. v. Chr. gemäß den Ankündigungen der Propheten untergehen sollte.
[10] Der hl. Gregor verwendet hier den Begriff σκαιóτης, von σκαιός, was "westlich" bedeutet (z.B. das Skäische Tor, d.h. das Westtor von Troja) und zugleich "links, linkisch, einfältig, unverständig, ungebildet, grob" usw.
[11] Gemeint ist hier nicht die gottgegebene Freiheit des menschlichen Willens, sondern die politische Freiheit der höheren Gesellschaftsschichten. Siehe weiter unten.
[12] Gemeint sind das Alte und das Neue Testament, denn das erstere war gleichsam die Vorschattung des zweiten (so wie am frühen Morgen ein Mensch, der nach Westen geht, seinen Schatten vorauswirft).
[13] Gr. τοὺς ἔξωθεν, d.h. die  Heiden, die außerhalb der Kirche sind.
[14] Kerdoos war einer der Beinamen des Hermes, des Schutzgottes des Handels und des Gewinns.
[15] Hier liegt ein Wortspiel vor, das im Deutschen nicht wiedergegeben werden kann, denn das griech. Wort λόγος bedeutet zugleich Vernunft, Logik, Grund, Wort und Logos (Christus).
[16] Das heißt die Wunden deiner Seele durch die Pflege der Wunden deiner leidenden Mitmenschen.
 http://www.impantokratoros.gr/gregor-theologe-liebe-arme.de.aspx




Hl. Gregor der Theologe

Über die Liebe zu den Armen [1]



Vorrede
   1.
änner und Brüder und Mitbedürftige – denn alle sind wir arm und bedürftig der göttlichen Gnade, mag einer auch meinen, dem anderen überlegen zu sein, wenn er die Dinge mit  kleinen Maßstäben mißt –, ich bitte euch, nehmt diese Rede über die Liebe zu den Armen nicht mit Armseligkeit entgegen, sondern mit Großmut, damit ihr reich werden möchtet am Gottesreich. Und betet mit uns, damit uns gegeben werde, euch das Wort in Fülle zu verschaffen und mit diesem eure Seelen zu ernähren und das geistige Brot an jene auszuteilen, die hungern danach, sei es, indem wir Speise vom Himmel herabregnen lassen, wie Moses vormals (s. Ex 16,14ff), und Brot von Engeln verteilen (s. Ps 77,25), sei es indem wir mit wenigen Broten Tausende speisen in der Wüste, wie es Jesus danach tat (s. Mt 14,15ff), Er, das wahre Brot und die Quelle des wahren Lebens.
     
Frage nach der höchsten Tugend
  2.
s ist wahrlich nicht leicht, zu bestimmen, welches die höchste aller Tugenden ist, welche den Vorrang hat und siegt über alle anderen, geradesowenig wie sich aus einer üppig blühenden und duftenden Wiese ohne weiteres die schönste und am wunderbarsten duftende Blume auswählen läßt, ziehen dich doch die Schönheit und der Duft bald zur einen, bald zur anderen hin, um dich zu überzeugen, dass sie die Schönste ist. Was mich selbst betrifft, so  gehe ich hierbei von folgenden Überlegungen aus:
      Gut sind Glaube,  Hoffnung und Liebe, diese drei (1 Kor 13,13). Zeuge des Glaubens ist Abraham, der durch den Glauben gerechtfertigt wurde (s. Gen 15,6). Zeugen der Hoffnung sind Enoch, der als erster  seine Hoffnung auf die Anrufung des Herrn setzte (s. Gen 4,26), sowie alle Gerechten, die um der Hoffnung willen Unbill ertrugen. Zeugen der Liebe sind der göttliche Apostel, der um Israels willen sogar gegen seine eigene Person redete (s. Röm 9,3), sowie Gott
Selbst, Der die Liebe genannt wird (1 Joh 4,8).
     Gut ist die Gastfreundschaft, und Zeuge hiervon sind unter den Gerechten Lot, Bewohner von Sodom, doch nicht Sodomit der Lebensweise nach, und unter den Sündern die Dirne Raab, die jedoch keine Dirne war der Gesinnung nach und durch die Gastfreundschaft Lob gewann und gerettet wurde.
     Gut ist die Bruderliebe, und ihr Zeuge ist Jesus, Der es nicht nur hinnahm, unser Bruder genannt zu werden, sondern auch zu leiden für uns.
     Gut ist die Menschenliebe, und ihr Zeuge ist abermals Jesus, Der nicht nur den Menschen erschuf zu guten Werken und dem Staub das Gottesbild beigesellte, damit es ihn zum Besseren erhebe und ihm das Himmlische verschaffe, sondern auch Mensch wurde um unsertwillen.
      Gut ist die Langmut, und ihr Zeuge ist Derselbe, Der nicht nur darauf verzichtete, die Legionen der Engel aufzubieten gegen jene, die aufstanden wider Ihn und Gewalt anwandten gegen Ihn, und nicht nur Petrus rügte für das Ziehen des Schwerts, sondern überdies das Ohr des Verwundeten heilte (s. Mt 26,51ff; Lk 22,50-51). Dasselbe tat später auch Stephanus, der Jünger Christi, als er betete für diejenigen, die ihn steinigten (s. Apg 7,59-60). 
      Gut ist die Sanftmut, und ihre Zeugen sind Moses und David, denen diese Tugend bezeugt wird vor allen anderen (s. Num 12,3 und Ps 131,1), sowie ihr eigentlicher Lehrmeister, Der weder stritt, noch die Stimme erhob auf den Plätzen, noch Sich denen widersetzte, die Ihn abführten (s. Is 42,2 und 57,7).

    3.  Gut ist der [Gott gemäße] Eifer, und Zeuge hiervon ist Phinees, der zusammen mit der Madianitin auch den Israeliten durchbohrte, damit die Schande hinweggenommen würde von den Söhnen Israels, und der seinen Namen seiner Hingabe wegen erhielt (s. Num 25,7ff). Nach ihm zeugten davon jene, die sagten: "Mit großem Eifer eiferte ich für den Herrn" (3 Kön 19,14), und:    "Mit dem Eifer Gottes bin ich bemüht um euch" (2 Kor 11,2) und: "Der Eifer für Dein Haus verzehrte mich" (Ps 68,10). Und sie sagten es nicht nur, sondern sie lebten es auch.
      Gut ist die Unterwerfung des Leibes, und davon möge dich Paulus überzeugen, der sich allezeit in Zucht hielt (s. 1 Kor 9,27) und mit dem Beispiel Israels jene abschreckte, die auf sich selbst vertrauen und am Körper hangen. Zeuge ist auch hier Jesus Selbst, Der fastete und den Versucher besiegte, der Ihn versuchte (s. Mt 4,1ff).
      Gut auch ist das Beten und Wachen, und davon überzeuge dich Gott Selbst, Der wachte und betete vor Seiner Passion (s. Mt 26,36).
      Gut sind Reinheit und Jungfräulichkeit, und auch hiervon überzeuge dich Paulus, der Verordnungen erließ hierüber und mit Recht sowohl die Ehe als auch die Ehelosigkeit lobte (s. 1 Kor 7,1ff), und Jesus Selbst, Der geboren wurde aus der Jungfrau, damit sowohl das Gebären geehrt als auch der Jungfräulichkeit der Vorzug gegeben werde.
       Gut ist die Selbstbeherrschung, und davon überzeuge dich David, der, obwohl er zu trinken begehrte, nicht trank von dem Wasser, das man aus dem Brunnen von Bethlehem hergeholt hatte, sondern es als Trankopfer darbrachte, da er sein Gelüst nicht auf Kosten fremden Bluts befriedigen wollte (s. 2 Kön 23,15ff).[2]
    
     4.   Gut ist die Einsamkeit und Hesychia, und dies lehren mich der Karmel des Elias, die Wüste des Johannes und der Berg Jesu, auf den Er Sich oft zurückzuziehen pflegte, wie sich zeigt, um allein in der Hesychia zu verharren.
     Gut ist die Einfachheit, und dies lehren mich Elias, der bei einer armen Witwe wohnte, und Johannes, der sich mit Kamelfell bedeckte, sowie Petrus, der sich von Lupinen im Wert eines As[3] ernährte.

      Gut ist die demütige Gesinnung, und von ihr gibt es viele und vielerlei Beispiele, allen anderen voran jenes des Erlösers und Gebieters aller, Der Sich Selbst nicht nur erniedrigte bis zur Knechtsgestalt (a. Phil 2, 6-7), Sein Antlitz darbot zur Schmach des Bespucktwerdens und Sich zu den Verbrechern rechnen ließ – Er, Der hinwegnimmt die Sünde der Welt (s. Is 50,6; 53,12), sondern auch Seinen Jüngern die Füße wusch, so als wäre Er ihr Knecht (s. Joh 13,5).
      Gut ist die Besitzlosigkeit  und die Verachtung des Geldes, und dies bezeugen Zachäos und Christus Selbst, der erstere, indem er durch Christi Eintreten  in sein Haus bewegt wurde, beinahe seine ganze Habe zu verteilen (s. Lk 19,8), der Letztere, indem Er dem reichen Jüngling  diese Tugend nannte als das Vollkommene (s. Mt 19,21).
     Und um alles in Kürze zu sagen – gut ist die Gottesschau, gut auch die Praxis.[4] Die erstere, weil sie aus dem Irdischen entrückt,  in das Allerheiligste erhebt und unseren Geist zurückführt zu dem ihm Verwandten. Die letztere, weil sie Christus aufnimmt und Ihm dient und durch ihre Werke die Liebe beweist.

Die Liebe ist das höchste Gebot,
die Liebe zu den Armen ihr bester Teil
  5.  
ede dieser Tugenden ist ein Weg zum Heil und führt zu einer der ewigen und seligen Wohnstätten, denn so wie es verschiedene Arten der [gottgefälligen] Lebensführung gibt, so auch gibt es viele Wohnungen bei Gott (s. Joh 14,2), die sich voneinander unterscheiden und jedem zugeteilt werden gemäß seinem Verdienst.
      So erkämpfe sich denn der eine diese Tugend, der andere jene, ein anderer noch mehrere zusammen oder gar alle miteinander, sofern dies möglich ist. Wenn er nur voranschreitet auf dem Weg und nach dem je Höheren strebt, indem Er auf dem Fuß Demjenigen folgt, Der ihn in rechter Weise lehrt und lenkt und ihn auf dem schmalen Pfad und durch das enge Tor hinausführt in die Weite der jenseits von diesen liegenden Seligkeit.
      Müssen wir aber Paulus und Christus Selbst glauben, dass die Liebe das erste und höchste Gebot ist und dass diese die Summe des Gesetzes und der Propheten bildet (s. Mt 22,26ff; 1 Kor 13,1ff), dann finde ich, dass der beste Teil derselben die Liebe zu den Armen ist und das Erbarmen und Mitfühlen mit unseren Mitmenschen. Denn keines von allen Dingen ist so heilsam wie das Erbarmen, weil nichts Gott näher ist als dieses – Ihm, Dem Erbarmen und Wahrheit vorangehen  (Ps 88,15) und Dem die Barmherzigkeit lieber ist als das Recht (s. Mt 9,13; Os 6,6). Und Er, Der mit Gerechtigkeit vergilt und die Barmherzigkeit als Waage nimmt (s. Is 28,17), vergilt nichts so sehr mit Erbarmen wie das Erbarmen (s. Mt 5,7). .

    6.  Deshalb sind wir gehalten, allen Armen ein erbarmendes Herz zu öffnen, all denen, die, aus irgendeinem Grund in Not sind, gemäß dem Gebot, das uns gebietet, uns zu freuen mit den sich Freuenden und zu weinen mit den Weinenden (Röm 12,15). Wir sind gehalten, den Menschen den Liebesdienst der Güte darzubringen, denn auch wir selbst sind Menschen, ob sie nun desselben bedürfen, weil sie verwitwet sind, oder weil sie zu Waisen wurden oder fernab sind von ihrer Heimat oder zu Opfern wurden von herrschaftlicher Willkür und Grausamkeit, der Unmenschlichkeit von Steuereintreibern, der mörderischen Gewalt von Räubern, der Unersätt-lichkeit von Dieben, der Beschlagnahme ihres Besitzes oder eines Schiffsuntergangs. Alle sind gleicherweise erbarmungswürdig und schauen auf unsere Hände, so wie wir selbst auf die Hände Gottes schauen und um ihre Hilfe bitten. 



Besonderes Erbarmen für die Aussätzigen.
Exkurs: Das ungleiche Gespann von Geist und Körper.


nter diesen bedürfen unseres Erbarmens mehr noch als jene, die das übliche Maß an Not erleiden, diejenigen, die in übermäßigem Elend sind, insbesondere die von der heiligen Krankheit Befallenen,[5] deren Fleisch zerfressen ist bis auf die Knochen und bis aufs Mark, so wie es einigen angedroht wurde (s. Is 10,18), ausgeliefert von diesem geplagten, niedrigen und unverläßlichen Körper, von dem ich nicht weiß, wie ich ihm verbunden wurde und wie ich zugleich Abbild Gottes bin und vermischt mit Lehm (s. Gen 1,27; 2,7). Dieser Leib führt Krieg, wenn er gesund ist, und wird unwillig, wenn man ihn bekriegt. Als meinen Mitknecht liebe ich ihn, als meinen Feind verstoße ich ihn. Als Hindernis meide ich ihn, als Miterbe flößt er mir Scheu ein. Ringe ich, um ihn zu erschöpfen, fehlt mir der Helfer, den ich brauche, um das Höchste zu erlangen, denn ich weiß, zu was ich erschaffen worden bin und dass ich aufsteigen muß zu Gott durch konkretes Tun.[6]
    
    7.   Schone ich ihn als Helfer, weiß ich nicht, wie seiner Rebellion entgehen oder wie nicht von Gott abfallen unter dem Gewicht der Fesseln, die mich nach unten ziehen und festhalten am Boden. Er ist ein gutmütiger Feind und ein listiger Freund. O welch ungleiches Gespann,  welche Fremdheit zwischen beiden! Was ich fürchte, das pflege ich, und was ich liebe, das fürchte ich. Noch bevor ich in den Krieg ziehe, versöhne ich mich, und noch bevor ich Frieden schließe, bin ich wieder entzweit. Was ist diese seltsame Weisheit, die mich umgibt? Was dieses große Mysterium?
     Will Gott vielleicht, da wir Sein Anteil sind und von oben stammen, dass wir  auf Grund des Kampfes und Ringens mit dem Leib immerdar zu Ihm hin schauen, damit wir uns nicht wegen unserer Würde[7] überheben und hochmütig werden und den Schöpfer verachten möchten, sondern mit Hilfe der uns beigesellten Schwäche erzogen werden zum rechten Umgang mit der Würde? Damit wir uns selbst erkennen als zugleich Höchste und Niedrigste, als gleichzeitig Irdische und Himmlische, Vergängliche und Unsterbliche, Erben sowohl des Lichts als auch des Feuers oder auch der Finsternis, je nachdem, zu welchem wir hinneigen?
      Dies ist die Mischung, aus der wir bestehen, und dies ist der Grund, so glaube ich, weshalb wir, wenn wir uns überheben des Gottesbildes wegen, durch den Staub gedemütigt werden. Hierüber sinne nach, wer es will, und  wir selbst werden zu einem gelegeneren Zeitpunkt darauf zurückkommen.

Das schreckliche Elend der Aussätzigen
8.  
etzt aber wollen wir wieder dort anknüpfen, wo das Wort mich abschweifen ließ aus  Schmerz über mein eigenes Fleisch und über meine Schwäche gegenüber den [dem Gottesbild] fremden Leidenschaften: Wir müssen, Brüder, dem zusammen mit uns Erschaffenen und Mitknecht [d.h. dem Körper] helfen. Habe ich ihn der Leidenschaft wegen auch als Feind bezeichnet, umarme ich ihn doch auch als Freund, und zwar Dessentwegen, Der uns  miteinander verbunden hat. Den Körpern unserer Mitmenschen aber sollen wir nicht weniger helfen als dem eigenen, sowohl den gesunden als auch denen, die verzehrt sind von jener Krankheit.
      Denn alle sind wir eins im Herrn, sei einer reich oder arm,  Sklave oder Freier, gesund oder krank am Leibe (s. Röm 12,15). Und ein Einziger ist das Haupt aller, Er, aus Dem alles stammt, Christus (Kol 1,16-18). Und was die Glieder des Leibes füreinander sind, das ist ein jeder von uns für jeden anderen und alle zusammen für alle (s. 1 Kor 12,27; Röm 12,5). Deshalb dürfen wir diejenigen die von der unreinen Krankheit befallen sind, weder verachten, noch mit Gleichgültig-keit behandeln. Wir sollen uns weder freuen, weil es unseren Körpern wohl ergeht, noch bloß trauern, weil  jene unserer Brüder in elendem Zustand sind. Sondern laßt uns einsehen, dass es nur einen einzigen Schutz gibt für unser Fleisch und unsere Seelen – das Werk der Barmherzigkeit gegenüber jenen.
     Untersuchen wir die Sache  genauer:

     9.   Die anderen Armen sind einer einzigen Sache wegen erbarmenswürdig, nämlich des Mangels am Lebensnotwendigen wegen, und dieser kann behoben werden, entweder mit der Zeit oder durch eigene Anstrengung oder dank der Hilfe eines Freundes oder Mitmenschen oder durch eine Änderung der Verhältnisse. Doch für die Aussätzigen – die nicht geringeren materiellen Mangel leiden als die anderen, sondern weit eher noch größeren, vermögen sie doch weder zu arbeiten noch sich selbst zu helfen – kommt zur materiellen Not noch der fortschreitende Zerfall des Fleisches, sodass der Schrecken der Krankheit für sie ungleich größer ist als die Hoffnung auf Besserung, und so finden sie geringe Hilfe bei der Hoffnung, die in der Regel die Arznei der Unglücklichen ist.
      Zum Übel der Armut kommt für sie mithin das zweite Übel jener Krankheit, das weit schlimmer und schwerer zu ertragen ist und das deshalb von vielen mit großer Leichtfertigkeit anderen als Fluch angewünscht wird. Das dritte Übel ist, dass sie zu Unberührbaren werden, zu solchen, die die Mehrheit der Menschen nicht einmal mehr zu erblicken wünscht, sondern vor ihnen flieht, Ekel empfindet vor ihnen  und sie verstößt. Schlimmer noch in der Tat als die Krankheit selbst ist für sie, zu spüren, dass man sie ihres Unglücks wegen auch noch haßt.
      Was mich betrifft, so kann ich angesichts ihres Leids nicht ohne Tränen bleiben, und selbst der Gedanke an sie erschüttert mich. Möge dies auch euch geschehen, damit ihr durch die Tränen den Tränen entgehen möchtet. Und ich weiß, dass dies all denen unter euch geschieht, die Christus und die Armen lieben, das heißt denen, die Gott angehören, von Dem sie auch die Gnadengabe empfangen haben, sich zu erbarmen. Auch ihr mithin seid Zeugen jener Pein.

     10.   Unseren Augen bietet sich ein schrecklicher und erbarmenswürdiger Anblick, unglaublich für alle außer denen, die ihn kennen: Menschen, die zugleich tot sind und leben, verstümmelt an den meisten Teilen ihres Körpers, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, sodass nicht mehr auszumachen ist, wer sie vormals waren oder noch bis vor kurzem gewesen sind. Genauer gesagt, elende Überreste von Menschen, die sich selbst gegenüber Bekannten nur noch durch den Hinweis auf Vater, Mutter, Geschwister und Herkunftsort identifizieren können, indem sie sagen: "Ich bin der Sohn von Soundso", oder: "Die und die ist meine Mutter, und dies ist mein Name, und du warst einst mein Freund und Bekannter." Dazu sind sie genötigt, weil ihnen ihre früheren Erkenntnismerkmale abhanden gekommen sind.
     Verstümmelte Menschen, entblößt von allem, vom Lebensnotwendigen, von Verwandten, von Freunden und sogar noch von ihrem eigenen Leib. Menschen, die völlig vereinsamt sind, von allen verlassen, und sich selbst zugleich bemitleiden und hassen. Sie wissen nicht, worüber sie mehr trauern sollen – über die Körperteile, die sie nicht mehr haben, oder über jene, die ihnen noch verblieben sind. Über jene, die die Krankheit bereits aufgezehrt hat, oder über jene, die ihr noch aufzuzehren bleiben. Der Verlust der ersteren ist zwar ein Unglück, doch das Übrigbleiben der anderen ist ein noch größeres Unglück, denn während jene noch vor dem Grab  verschwunden sind, wird für diese hier niemand sich finden, der sie ins Grab legen wird. Denn den Aussätzigen gegenüber bleibt selbst der gütigste und mildtätigste Mensch zur Gänze ungerührt.
      Und wäre es nur hier, wo wir vergessen, dass wir Fleisch sind und umhüllt vom Leib der Erniedrigung (Phil 3,21)! So sehr weichen wir zurück davor, unserem aussätzigen Mitmenschen zu helfen, dass wir solches Verhalten auch noch für Schutz unserer eigenen Körper halten. Mag es einer noch hinnehmen, sich einem verwesenden Toten, der bereits riecht, oder stinkenden Tierkadavern zu nähern oder sich mit übelriechendem Schlamm zu beschmutzen, so fliehen wir doch jene Menschen, so sehr wir können – o Unmenschlichkeit! –, und ertragen es nicht im geringsten, die gleiche Luft einzuatmen wie diese.

    11.  Wer ist aufrichtiger besorgt als ein Vater? Wer mitfühlender als eine Mutter? Doch im Fall jener Menschen entfällt selbst das, was zur Natur gehört. Sein eigenes Kind, das er gezeugt und auferzogen hat, das er für den Augapfel seines Lebens hielt, um dessentwillen er oftmals und in vielen Dingen zu Gott betete, treibt der Vater, wenn auch mit Schmerzen, weg von sich, zum Teil freiwillig, zum Teil unter Zwang.
      Und die Mutter erinnert sich zwar an die Wehen der Geburt und ihr Herz zerbricht, da sie ihr Kind aussetzt und das Lebende betrauert, als wäre es schon tot, indem sie ihm jämmerlich zuruft: "O Kind einer unglücklichen und elenden Mutter, das mir die Krankheit auf bittere Weise entreißt, du erbarmenswertes Kind, o Kind, das niemand mehr kennen wird, o Kind, das ich für die Abgründe, die Bergwildnis und Einöde aufgezogen habe! Mit den wilden Tieren wirst du zusammenhausen, der Fels wird dein Obdach sein, und von den Menschen werden nur die Gottesfürchtigsten dich noch besuchen!" Und diesen Klagen fügt sie jene Worte Hiobs hinzu: Warum wurdest du gebildet im Mutterleib und warum kamst du hervor aus dem Schoß, statt sogleich zu sterben (s. Hiob 3,11),  damit mit der Geburt zugleich auch der Tod einhergehen möchte? Warum starbst du nicht vor der Zeit, noch ehe du die Übel dieses Daseins kosten mußtest? Warum nahmen Knie dich auf? Warum boten sich dir Brüste dar, um dich zu stillen (Hiob 3,12)  da du doch ein Leben des Elends leben solltest, ein Leben, das schlimmer ist als der Tod?"
     Solches sagt sie und vergießt Ströme von Tränen. Und die Unglückliche möchte wohl ihr Kind umarmen, doch sie fürchtet dessen Fleisch wie einen Feind. Und so werden denn von der ganzen Öffentlichkeit verschrien und verfolgt nicht etwa solche, die Unrecht tun, sondern jene unglück-lichen Menschen. Selbst mit einem Mörder zusammenzuwohnen wird einer sich herbeilassen, oder einem Ehebrecher nicht  nur Obdach zu gewähren, sondern auch Gastfreundschaft bei Tisch, oder das Leben zu teilen mit einem Schänder von Heiligem oder mit solchen, die das ihnen gewährte Gute mit Bösem vergolten haben. Doch vom Kranken wendet man sich ab wie von einem Verbrecher, ohne sich im Geringsten zu erbarmen über ihn.  
      Die Bosheit wird höher gestellt als die Krankheit. Die Unmenschlichkeit machen wir uns zu eigen als Garant unserer Freiheit,  das Mitleid aber verachten wir als etwas Untaugliches.  

     12.  Sie [die Aussätzigen] werden vertrieben aus den Städten, sie werden vertrieben aus den Häusern, von den öffentlichen Plätzen, von den Strassen, sie werden ausgeschlossen von den Versammlungen, von den Festen, von den Symposien und sogar noch – o welches Leid! – vom Wasser. Weder zu den Quellen, die doch für alle strömen, haben sie Zugang wie die anderen Menschen, noch auch zu den Flüssen, da man glaubt, sie könnten auf diesem Weg andere anstecken.
     Doch das Widersinnigste ist, dass wir sie einerseits als Hassenswerte vertreiben, sie aber andrerseits durch eben diese Erbarmungslosigkeit nötigen, abermals zu uns zurückzukehren, da wir ihnen weder Unterkünfte zur Verfügung stellen, noch die benötigte Nahrung, noch Pflege für ihre Wunden, und da wir es unterlassen, durch geeignete Maßnahmen die Krankheit nach Möglichkeit einzudämmen.
     Deshalb irren sie Tag und Nacht umher, mittellos, nackt, obdachlos, indem sie ihre Krankheit vorzeigen, das Vergangene erzählen, den Schöpfer anrufen, der eine gestützt auf den anderen, so wie es die einem jeden verbliebenen Glieder erlauben. So schleppen sie sich dahin und suchen das Mitleid der Gesunden, die sie um ein wenig Brot bitten oder um etwas Gekochtes oder um einen Fetzen Tuch zur Bedeckung ihrer Scham oder um etwas Linderndes für ihre Geschwüre. Und barmherzig ist in ihren Augen nicht nur jener, der ihnen solche Hilfe gewährt, sondern allein schon jener, der sie nicht mit Härte wegjagt.
     Die meisten von ihnen aber lassen sich nicht einmal durch die Schmach fernhalten von Festanlässen, sondern versammeln sich dort im Gegenteil in großer Zahl, weil sie Mangel leiden. Ich rede hier von den öffentlichen heiligen Festen, die wir eingeführt haben zum Heil unserer Seelen, sowie von denen, wo ein Mysterium vollzogen wird oder wo wir der Martyrer der Wahrheit gedenken, um auch die Gottesfurcht jener nachzuahmen, deren Kämpfe wir ehren. Diese Kranken schämen sich zwar ihres Unglücks wegen, sind sie doch Menschen, und sie würden lieber verborgen bleiben in Bergen, Schluchten und Wäldern oder letztendlich in Nacht und Finsternis, doch immer wieder werfen sie sich in die Menschenmenge, wie eine unerträgliche und beweinenswerte Last. Dies geschieht vielleicht auch aus dem Grund, dass sie uns erinnern sollen an unsere Schwäche und uns überzeugen möchten, uns nicht an Vergängliches zu klammern, an irgendein Ding dieser gegenwärtigen, sichtbaren Welt, so als hätte es Bestand. Sie werfen sich in die Menschenmenge,  weil sie sich entweder sehnen, wieder einmal eine menschliche Stimme zu hören oder ein menschliches Gesicht zu sehen, oder weil sie von den Feiernden etwas Nahrung für ihr Überleben sammeln möchten, alle aber, um ihren Schmerz ein wenig zu besänftigen, indem sie ihn anderen bekanntmachen.

     13.   Wer würde nicht ins Herz getroffen durch ihre Wehklagen, vereint zu einem einzigen Trauerchor? Wer erträgt es, sie anzuhören? Wer hält ihren Anblick aus? Sie liegen da, gruppenweise, durch die Krankheit jammervoll zusammengebunden, jeder einen anderen Aspekt des Unglücks vorzeigend, um Mitleid zu wecken, jeder ein Zusatz zur Klage des anderen, erbarmenswürdig schon der eigenen Krankheit wegen, erbarmenswürdiger noch durch die Häufung des Leids so vieler.
     Rund um sie stehen Zuschauer aller Art, die zwar Anteil nehmen an ihrem Schmerz, doch auf Zeit. Und die Kranken rollen sich vor den Füßen dieser Menschen, in der sengenden Sonne und im Staub, ein andermal  in grimmigem Frost, Regen und Sturm, und nur deshalb treten wir nicht auf sie, weil uns ekelt, sie auch nur anzurühren. Den heiligen Gesängen im Innern widerklingt der Jammer der Bittenden, den mystischen Botschaften widertönt die herzzerreißende Wehklage.
     Doch weshalb dieses ganze Elend ausbreiten vor Menschen, die sich freuen an einem heiligen Fest? Vielleicht gelingt es mir, auch euch zu bewegen zur Wehklage, wenn ich euch das alles im Einzelnen vortrage, sodass die Trauer die Feststimmung besiegt. Ich sage euch mithin diese Dinge, weil es mir bisher nicht gelungen ist, euch zu überzeugen, dass Trauer zuweilen kostbarer ist als Genuß,  Niedergeschlagenheit heilsamer als Feststimmung und seliggepriesene Tränen  (s. Mt 5,4) besser als ungutes Lachen (s. Lk 6,25).

     14.  Solches mithin und weit schlimmeres, als was ich beschrieb, erleiden unsere Brüder in Gott, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt – sie, die dieselbe Natur empfangen haben wie wir, die aus demselben Lehm gemacht sind, aus dem wir am Anfang geschaffen wurden, die aus denselben Sehnen und Knochen zusammengefügt sind wie wir und wie alle anderen gekleidet in Fleisch und Haut, wie irgendwo der göttliche Hiob sagt, da er nachsinnt über seine Leiden und unseren äußeren Menschen  aufs Korn nimmt (s. Hiob 10,11). Vor allem aber – um auch das Höhere zu nennen, sofern es noch nötig ist, darauf hinzuweisen – haben sie wie wir das Gottesbild empfangen, und vielleicht bewahren sie es sogar besser als wir, selbst wenn ihre Körper verunstaltet sind. Wie wir haben sie Christus angezogen in ihrem inneren Menschen und dasselbe Unterpfand des Heiligen Geistes empfangen, das auch uns anvertraut worden ist. Und sie haben mit uns zusammen Anteil an denselben Gesetzen, Verheißungen, Testamenten, Gottesdiensten, Mysterien und Hoffnungen. Auch für sie ist Christus gestorben, Er, Der hinwegnimmt die Sünde der ganzen Welt (s. Joh 1,29), und wie wir sind sie Erben des himmlischen Lebens – selbst wenn sie das irdische zum größten Teil verfehlt haben –, denn wie wir sind sie begraben worden mit Christus und  auferstanden mit Ihm (Kol 2,12, Röm 6,4ff), sofern sie gelitten haben mit Ihm, um verherrlicht zu werden mit Ihm (Röm 8,17).

Appell an das Gewissen der Christen,
insbesondere der Reichen
  15.  
ir jedoch, was tun wir, die wir den neuen Namen geerbt haben, die wir uns nach Christus benennen – wir, die heilige Nation, die königliche Priesterschaft, das auserwählte und vortreffliche Volk (s. 1 Petr 2,9), Zeloten guter und heilsamer Werke, wir, die Jünger Christi des Sanftmütigen und Menschenliebenden, Der unsere Schwächen auf Sich genommen und Sich erniedrigt hat bis hinab zu unserem Lehm, Der arm geworden ist um unsertwillen und dieses Fleisch, dies irdische Zelt angelegt und zu unserem Heil gelitten hat und schwach geworden ist, damit wir den Reichtum Seiner Göttlichkeit erlangen möchten (s. s. 2 Kor 8,9)?  Was ist mit uns, die wir ein solches Beispiel des Erbarmens und des Mitleids vor uns haben? Was empfinden wir für jene Menschen und was tun wir? Werden wir unseren Blick abwenden? Vorbeigehen an ihnen? Sie liegen lassen wie Tote, wie etwas Ekelhaftes, wie Schlangen und böses Getier?
    Niemals, Brüder! Solches ziemt sich nicht für uns, die wir aufgezogen worden sind von Christus, dem guten Hirten, Der das verirrte Schaf zurückholt, das verlorene sucht und das schwache stärkt. Noch auch ziemt es sich für die menschliche Natur, die uns, belehrt durch die eigene Schwäche, das Mitleid, die Achtung für den anderen und die Nächstenliebe gebietet.

    16. Während jene unter freiem Himmel schutzlos jeder Witterung preisgegeben sind, erfreuen wir uns prachtvoller Häuser, geschmückt mit Marmor und Edelsteinen jeder Art, mit glänzendem Gold und Silber, mit fein gearbeiteten Mosaiken und farbenreichen Malereien zur Täuschung und Verlockung der Augen? In den einen wohnen wir, andere erbauen wir. Doch für wen? Vielleicht nicht einmal für unsere Erben, sondern für Fremde und Unbekannte, für solche, die uns vielleicht gar nicht lieben, sondern erfüllt sind von Feindschaft und Neid, dem letzten Übel.
     Derweil jene Ärmsten draußen vor Kälte zittern, notdürftig bedeckt mit irgendwelchen härenen Fetzen, wenn nicht gar ohne jede Bedeckung, verwöhnen wir uns selbst mit weichen und wallenden Kleidern, mit feinsten Leinen- und Seidenstoffen, die uns weit eher häßlich machen als schön? Denn als häßlich gilt mir alles Überflüssige und Unnötige. Wir stapeln auf in Kästen, was Gegenstand unnützer und törichter Sorge ist und zum Fraß der Motten wird sowie der alles verzehrenden Zeit, während jene  Menschen nicht einmal die nötige Nahrung haben?
      Ich selbst schwelge im Überfluß und überlasse jene der letzten Entbehrung? Werden sie vor unseren Türen liegen bleiben, erschöpft und ausgehungert, entblößt sogar noch von der Möglichkeit des Bettelns, weil ihr Körper keine Stimme mehr hat, um zu bitten, noch auch Hände, um sie flehend auszustrecken, oder Füße, um hinzutreten zu denen, die haben? Ohne Atem gar, um ihr Leid durch Jammern auszudrücken? Müssen sie soweit kommen, dass sie das schwerste aller Übel, die Blindheit, als das leichteste erachten und den Augen als ihrem einzigen Körperteil danken, weil sie ihnen den Anblick ihrer Verstümmelung ersparen?

    17.   Während es jenen so ergeht, ruhen wir prächtig auf hohem und stolzem Lager, gehüllt in überflüssige Umhänge von unerschwinglicher Kostbarkeit, und  ärgern uns, wenn nur schon ein Ton ihres Flehens an unser Ohr dringt. Unser Boden muß von Blumen duften, und dies oftmals auch außerhalb der Jahreszeit, die Tafel muß begossen sein mit wohlduftenden Essenzen, und zwar den erlesensten und teuersten, damit wir noch effeminierter werden. Uns zur Seite wollen wir Diener haben, in Schmuck und Zier, das Haar locker herabfallend nach Frauenart, das Gesicht mehr zurechtgemacht als sich ziemt, mit Augen, die lüsterner sind als gut ist, damit uns die einen mit Fingerspitzen die Weinkelche reichen, mit größtmöglicher Grazie und Sorgfalt, die anderen aber über unseren Häuptern Wind machen mit Fächern und durch die Bewegung ihrer Hände nicht nur Kühlung schaffen für die Fülle unseres Fleisches, sondern überdies die Tafel in Fülle mit Fleisch versehen, sodass wir reichlich versorgt sind mit allen Elementen der Natur – Luft, Erde, Wasser.
     Dabei beschweren wir uns noch über die Zubereitungen der Köche und Bäcker und teilen Schelte aus an alle, in der überragenden Sorge, unseren undankbaren Bauch zufriedenzustellen, jene schwere und unheilstiftende Last, jenes unersättliche Untier, dem keiner vertrauen kann und das doch dereinst abgeschafft werden wird mitsamt den Speisen (1 Kor 6,13).
    Während jene Kranken draußen sich glücklich schätzen würden, auch nur an Wasser satt zu werden, trinken wir aus unseren Weinkrügen bis zur Berauschung oder gar, was die Ausschweifenderen betrifft, bis zur Besinnungslosigkeit. Und von den Weinen weisen wir den einen als minderwertig zurück, während wir den anderen als blumig rühmen und uns in tiefsinnigen Betrachtungen ergehen über einen anderen, wobei  wir es als Verlust einschätzen, wenn uns außer den einheimischen Sorten nicht auch, gleichsam als Krönung, eine der renommiertesten unter den fremden zur Verfügung stehen. Denn wir wollen in Üppigkeit schwelgen und mehr haben, als nötig ist, oder zumindest als solche gelten, geradeso als wäre es eine Schande, nicht als schlechte Menschen angesehen zu werden, als Diener des Bauchs und dessen, was unterhalb des Bauches ist.

Die Krankheit der Leidenschaften
ist schlimmer als der Aussatz
18.  
arum solches, o Freunde und Brüder? Warum kranken auch wir, nämlich an der Seele und zwar an einer Krankheit, die weit schlimmer ist als jene der Körper? Denn was den Aussatz betrifft, so weiß ich, dass er unfreiwillig ist, diese Krankheit aber kommt durch unser eigenes Wollen, und während jener mit dem gegenwärtigen Leben endet, begleitet uns diese, wenn wir ausziehen aus dieser Welt. Jener weckt Erbarmen, diese aber Abscheu, bei jenen Menschen zumindest, die bei Sinnen sind.
      Warum helfen wir nicht unserer Natur, solange wir noch Zeit haben dazu? Warum stehen wir der Schwäche des Fleisches nicht bei, die wir doch selbst Fleisch sind? Warum schwelgen  wir in Genüssen, während unsere Brüder im Elend sind? Gott bewahre, dass ich mich bereichere, während jene Mangel leiden, dass ich es mir gut gehen lasse, ohne ihre Wunden zu pflegen, dass ich genug zu essen und ein Obdach habe und unter einem Dach ruhe und es zugleich unterlasse, ihnen nach Kräften Brot und Kleidung und Erholung unter meinem Dach zu verschaffen!
      Laßt uns alles Christus übergeben, um Ihm auf authentische Weise nachzufolgen, indem wir das Kreuz auf uns nehmen und entledigt von aller Schwere uns mit Leichtigkeit emporschwingen zur oberen Welt, in rechter Weise vorbereitet, sodass nichts mehr uns hinabziehen kann. Anstelle aller Dinge laßt uns Christus gewinnen, aufsteigen werden durch Niedrigkeit und reich werden durch Armut. Oder dann laßt uns alle Besitztümer mit Christus teilen, damit das Haben geheiligt werde durch das rechte Haben, und den Nichthabenden Anteil geben daran.
       Habe ich aber nur für mich selbst gesät, dann habe ich zwar gesät, doch die Früchte werden andere essen. Oder um abermals Hiob zu zitieren: „...dann mögen mir Nesseln aufsprießen statt Weizen und Dornen statt Gerste“ (Hiob 31,40). Dann möge der heiße Südwind blasen und Sturm meine Mühen vernichten, damit offenbar werde, dass meine Mühen umsonst waren. Und habe ich überdies Scheunen gebaut mit Hilfe des Mammons, um weiteren Mammon anzuhäufen, so möge noch in dieser Nacht meine Seele gefordert werden (s. Lk 12,20), damit ich Rechenschaft ablege über das, was ich auf üble Weise angehäuft habe

Die Unbeständigkeit alles Irdischen und Menschlichen
   19. 
erden wir nicht zur Besinnung kommen, sei es auch spät? Werden wir unsere Hartherzigkeit, um nicht zu sagen Kleinlichkeit, nicht endlich ablegen? Werden wir nicht das Menschliche erwägen? Werden wir nicht am Unglück der anderen erkennen, was auch uns selbst widerfahren könnte? Denn es liegt in der Natur der menschlichen Angelegenheiten, dass nichts gewiß ist an ihnen oder reibungslos oder unabhängig von anderen Faktoren und in sich selbst gefestigt. Vielmehr bewegt sich das, was uns betrifft, in einem Kreis, der oftmals innerhalb eines einzigen Tages, zuweilen aber auch innerhalb einer einzigen Stunde große Änderungen bringt.
     Besser ist, den wechselhaften Winden zu vertrauen oder den Spuren eines Schiffes auf dem Wasser oder den trügerischen Träumen der Nacht, deren Reiz nur eine kurze Weile dauert, oder dem, was Kinder spielend in den Sand zeichnen, als dem menschlichen Glück.  Besonnen sind diejenigen, die sich, weil sie dem gegenwärtigen Dasein nicht vertrauen, Schätze sammeln für das künftige und in der Erkenntnis der Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit des menschlichen Wohlstands die Mildtätigkeit lieben, die nicht vergeht, um von drei Dingen zumindest eines zu gewinnen – entweder dass sie nie Not leiden, denn den Gottesfürchtigen verschafft die göttliche Vorsehung oftmals auch Irdisches, zieht doch ihre Milde das göttliche Mitleid auf sich, oder dass sie, wenn sie leiden, Freimut haben vor Gott, insofern ihr Leid nicht von irgendwelchen bösen Taten herrührt, sondern von irgendeiner Fügung, oder schließlich dass sie  im Fall der Not  von den Mildtätigen milde Gaben verlangen können als etwas, worauf sie Anspruch haben, weil auch sie, als es ihnen gut ging, mit Einsicht solche milde Gaben an die Bedürftigen verteilten.

     20.  Der Weise brüste sich nicht mit seiner Weisheit, sagt der Herr, noch auch der Reiche mit seinem Reichtum oder der Starke mit seiner Kraft (s. Jer 9,23), selbst dann nicht, wenn sie das Äußerste erlangt haben, der eine, was die Weisheit betrifft, der andere was den Besitz, der dritte was die Kraft.  Dem füge ich Folgendes hinzu: Noch auch brüste sich der Berühmte mit seinem Ruhm, der Gesunde mit seiner Gesundheit, der Schöne mit seiner Schönheit oder der Junge mit seiner Jugend. Kurz gesagt – niemand rühme sich irgendeines der Dinge, die in dieser Welt als etwas gelten und die bloß zur Aufgeblasenheit führen.
      Sondern wenn einer sich schon rühmen muß, so rühme er sich allein, verständig zu sein und Gott zu suchen (s. Jer 9,24 / 1 Kor 1,31; 2 Kor 10,17) und zu leiden mit den Leidenden und so für sich etwas zu hinterlegen, was ihm von Nutzen sein wird für das künftige Leben Alles andere ist wechselhaft und vergänglich und fällt, wie die Steinchen beim Brettspiel der Kinder, bald dem einen, bald dem anderen zu.  Nichts in der Tat ist gewisser für denjenigen, der Irdisches besitzt, als dass er es verlieren wird, entweder beim Ablauf seiner Zeit oder schon früher durch den Neid. Die himmlischen Güter aber sind beständig und unvergänglich, und weder können sie je zugrundegehen, noch sich wandeln, und nie enttäuschen sie jene, die ihre Hoffnung auf sie gesetzt haben.
     Doch auch aus einem anderen Grund noch, glaube ich, ist kein einziges der irdischen Güter gesichert für die Menschen und beständig – deshalb nämlich, weil der Schöpfer-Logos in Seiner jedes Begreifen übersteigenden Weisheit es zu Recht so gefügt hat, dass wir von den Sinnendingen zum Narren gehalten werden, indem sie uns bald diesen, bald jenen Wechsel bescheren, einmal auf den Gipfel führen, dann wieder in den Abgrund werfen und sich entziehen, bevor wir sie ergreifen können, und verschwinden, mit dem Zweck nämlich, dass wir uns, in der Erkenntnis ihrer Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit, den himmlischen Gütern zuwenden möchten. Denn was würde aus uns werden, wenn unser Wohlergehen beständig wäre, wo wir uns doch schon in seiner Unbeständigkeit in solchem Maß an dasselbe klammern, dass dessen Genuß und Täuschung uns völlig versklavt und unfähig gemacht haben, etwas Besseres und Höheres als das Gegenwärtige zu erfassen, und dies obwohl wir gelehrt wurden und glauben, dass wir nach dem Bilde Gottes erschaffen wurden, das in den Höhen ist und uns hinaufzieht zu sich?








Selig wer die Unterscheidung besitzt
und dem Schein das Sein vorzieht
   21.  
er ist  weise, dass er dies begreift? (Os 14,10). Wer wird vorübergehen an dem, was vergeht? Wer wird verharren bei dem, was bleibt? Wer wird das, was gegenwärtig ist, als entschwindend erkennen? Wer wird einsehen, dass das Erhoffte schon da ist? Wer vermag zu unterscheiden zwischen Sein und Schein, um dem ersteren zu folgen und  letzteren zu verachten? Zwischen irdischem Zelt und himmlischer Stadt? Zwischen Aufenthaltsort in der Fremde und ewiger Wohnstatt? Zwischen Finsternis und Licht? Morast des Abgrunds und  heiligem Grund? Fleisch und Geist? Zwischen Gott und dem Weltbeherrscher der Finsternis (Eph 6,12)? Zwischen Schatten des Todes und ewigem Leben? Wer ist weise und erkauft sich durch das Gegenwärtige das Künftige? Durch den flüchtigen Reichtum denjenigen, der niemals zerfließt? Durch die sichtbaren Dinge diejenigen, die man nicht sieht?
     Selig in Wahrheit ist derjenige, welcher, all dies unterscheidend und voneinander trennend mit dem Schwert des Logos Gottes, welches das Bessere abtrennt vom Schlechteren, Aufstiege vollzieht in seinem Herzen, wie der göttliche David sagt (Ps 83,6), und indem er mit all seiner Kraft dieses Tal der Tränen flieht und das sucht, was oben ist (Kol 3,1). Der mit Christus zusammen der Welt gekreuzigt worden ist, mit Ihm zusammen aufersteht und auffährt in die Himmel, zum Erben des Lebens geworden, das ohne Wandel ist und ohne Trug.  Einen solchen vermag die Schlange nicht mehr zu beißen auf dem Weg. Sie kann ihn nicht mehr treffen an der Ferse, um ihrerseits von ihm getroffen zu werden am Kopf (s. Gen 3,15).
      Uns anderen aber ruft David als Künder mit mächtiger Stimme aus der Höhe mit Recht jene für alle Welt geltende Botschaft zu, in der er uns als Schwerfällige von Herzen bezeichnet, als solche die die Lüge lieben, und uns aufruft, uns nicht solchermassen an das Sichtbare zu klammern und nicht unser ganzes Glück hienieden an die bloße Sättigung mit Brot und Wein zu hängen (s. Ps 4,3ff).
     Dasselbe will auch der selige Michäas sagen, wenn er sich dagegen wendet, die niedrigen Dinge als Güter zu betrachten. "Nähert euch", sagt er, "den ewigen Bergen. Steh auf und mach dich auf den Weg, denn es gibt hier kein Ausruhen für dich" (Mich 2,9-10). Dies ist fast buchstäblich dasselbe, was unser Herr und Erlöser gebot, als Er sagte: "Steht auf, laßt uns aufbrechen von hier" (Joh 14,31), womit Er nicht nur die damaligen Jünger zum Aufbrechen  aufforderte und dies nicht nur von jenem Ort, wie man meinen könnte, sondern immerdar und alle Seine Jünger zieht Er damit von dieser Erde und vom Irdischen hinauf in die Himmel und zu den himmlischen Dingen.
 
      22.   Folgen wir mithin dem Logos, streben wir nach der dortigen Erquickung, entledigen wir uns des hiesigen Besitzes und behalten wir nur, was gut ist, um unsere Seelen zu erkaufen mit Almosen und die Bedürftigen zu versorgen mit dem Notwendigen, damit wir reich werden möchten an himmlischen Gütern.
     Gib auch der Seele Anteil und nicht nur dem Fleisch. Gib auch Gott Anteil und nicht nur der Welt. Nimm etwas weg vom Bauch und gib es dem Geist. Entreiß etwas dem Feuer und hinterleg es fern von der Flamme, die unten brennt. Beraube den Tyrannen und gib die Beute dem Gebieter in Obhut. Gib Anteil den Sieben, das heißt dem gegenwärtigen Dasein, doch auch den  Acht (Ekkl 11,2), das heißt dem künftigen Leben, das uns nach jenem aufnehmen wird. Gib auch Dem ein Weniges, von Dem du Vieles hast. Gib vielmehr alles Demjenigen, Der dir alles schenkt.





Alles gehört Gott

iemals wirst du Gottes Großzügigkeit übertreffen können, selbst wenn du alles gibst, was du hast, selbst wenn du dich selbst hinzugibst zu allem. Denn sich Gott übergeben, bedeutet abermals empfangen. So viel du auch darbringst, immerdar ist das Fehlende noch größer. Du gibst ja nie dein Eigenes, hast du doch alles von Ihm. Geradeso wie keiner über den eigenen Schatten springen kann, weil dieser mit uns geht in unserem Voranschreiten und uns ständig voraus ist, und der Leib nicht über den Kopf zu steigen vermag, weil dieser stets an seiner Spitze ist, so auch ist es uns unmöglich, Gott zu übertreffen im Geben. Denn wir geben nichts, was nicht Sein wäre, noch auch mit einer Freizügigkeit, die der Seinigen nahe käme.

     23.  Erkenne, woher du deine Existenz hast, das Atmen, das Nachsinnen über diese hohen Dinge, das Erkennen Gottes, das Hoffen auf das Reich der Himmel, die Gleichrangigkeit mit den Engeln, das Schauen der Herrlichkeit, jetzt zwar  wie in Spiegeln und Rätseln, dann aber in Vollkommenheit und aller Deutlichkeit (s. 1 Kor 13,12). Woher das Erhobenwerden zum Gottessohn und Miterben Christi, und ich wage zu sagen: zum Gott der Gnade nach! Woher kommt dir das alles und von Wem?
     Oder, um auch das Geringere und Sichtbare zu nennen: Wer schenkte dir die Fähigkeit, die Schönheit des Himmels wahrzunehmen, die Bahn der Sonne, den Zyklus des Mondes, die Vielzahl der Sterne, die zwischen ihnen allen wirkende Harmonie und Ordnung,  zusammen-klingenden Saiten einer Harfe gleich, die Abfolge der Stunden, den Wechsel der Epochen, den Kreislauf der Jahreszeiten, die Tag und Nachtgleiche, die Gewächse der Erde, das Ziehen der Wolken, die Weite des Meeres, seine Stille und sein Toben, die Tiefe der Ströme und das Brausen der Winde? Wer gab dir den Regen, den Landbau, die Nahrungsmittel, die Gewerbe und Künste, die Dörfer, Städte und Länder, das gesittete Leben, den vertrauten Umgang mit deinen Mitmenschen? Wer gab dir die Tiere, die einen zur Zähmung und zum Einspannen ins Joch, die anderen zu deiner Nahrung?  Wer setzte dich als Herr und König über alles, was auf Erden ist?    
      Und um nicht alles im Einzelnen aufzuzählen – wer hat dem Menschen all das geschenkt, was ihn heraushebt über alle anderen Geschöpfe? Ist es nicht Derjenige, Der jetzt von dir allem anderen voran Barmherzigkeit verlangt? Schämen wir uns nicht, nachdem wir von Gott so vieles empfangen haben und noch zu empfangen hoffen, Ihm nicht einmal dieses eine darbringen zu wollen, nämlich die Barmherzigkeit?
      Während Er uns von den Tieren geschieden hat, indem Er uns als einziges Geschöpf auf Erden ehrte mit dem Geschenk der Vernunft, vertieren wir uns, verderben und verblenden uns selbst – oder wie ich es sonst nennen soll – durch das Schwelgen in Genüssen in solchem Maß, dass wir die Spreu mit dem Weizen vermischen und das oftmals auf üble Art Erworbene und das Körperliche höher stellen als uns selbst?

Warnung vor dem Zorn Gottes gegen die Habsüchtigen

ormals gab es, wie uns die Mythen lehren, ein Geschlecht von Giganten, neben jenem der übrigen Menschen. Wollen auch wir höher sein und über den anderen Menschen stehen wie jene, wie Nimrod (s. Gen 10,8ff) oder das Geschlecht des Enak (s. Num 13,23), das einst Israel bedrängte, oder wie diejenigen, deretwegen die Flut kam und die Erde reinigte (Gen 6,5ff)? Und während Er, Der Gott ist und Gebieter aller, Sich nicht schämt, unser Vater genannt zu werden, verleugnen wir jene, die von derselben Gattung sind wie wir?

    24.   Nein, o Freunde und Brüder, werden wir nicht schlechte Verwalter der uns geschenkten Gaben, damit wir nicht die Worte des Petrus hören müssen, der sagt: "Schämt euch, die ihr euch Fremdes angeeignet habt. Ahmt die Gerechtigkeit Gottes nach, und keiner wird bedürftig sein." [8]  
     Plagen wir uns nicht mit dem Anhäufen und Hüten von Besitztümern, während andere geplagt sind von Not, damit uns nicht bittere Rüge und Verwarnung zuteil werde, einerseits vom göttlichen Amos mit den Worten: "Wohlan denn, ihr, die ihr sagt: 'Wann wird der Neumond vorübergehen, damit wir verkaufen können, und der Sabbat, damit wir unsere Schatzkammern öffnen können?'..." und das weitere, womit der Prophet den Zorn Gottes herabruft auf jene, die große und kleine Gewichte benutzen beim Wägen (s. Amos 8,5ff), und andererseits vom seligen Michäas, der ebenfalls das genüßliche Leben geißelt, denn Sattheit gebiert Frevel, und die Verschwendung anprangert, für die nur Betten aus Elfenbein, das edelste Salböl, das zarteste Fleisch von Kälbern und Zicklein frisch von den Weiden und den Herden gut genug ist, das nichtige Händeklatschen zum Klang der Zimbeln, vor allem aber die irrige Meinung, dass irgendetwas von alledem beständig sei und fortdauern würde (s. Amos 6,4-5).
      Schlimmer noch als diese Dinge aber gilt dem Propheten, dass die Verschwender in keiner Weise Schmerz empfanden über den Zusammenbruch Josephs (Amos 6,6),[9] sondern weiter in ihren Genüssen schwelgten. Diese Anklage fügt er derjenigen des Übermaßes  hinzu.
     Möge uns nicht heute dasselbe widerfahren! Möchten wir nicht dermaßen in Genüssen schwelgen, dass wir die Menschenfreundlichkeit Gottes verachten, Dem solches mißfällt, selbst wenn Er Seinen Zorn nicht sogleich und nicht entsprechend dem Ausmaß ihrer Bosheit herabbringt auf jene, die sündigen.

Gottes Vorsorge für alle ohne Unterschied.
Der Egoismus der Menschen Ursache aller Übel auf Erden
25.  
aßt uns dem höchsten und ersten Gesetz Gottes folgen, Der regnen läßt über Gerechte und Sünder und die Sonne gleicherweise aufgehen läßt für alle (s. Mt 5,45), Der den Erdboden ausbreitet für alle Lebewesen auf dem Land, mit Quellen, Flüssen und Wäldern für alle, den Luftraum für die geflügelte Natur und die Gewässer für die Wassertiere. Allen schenkt Er in Fülle von allem, was unerläßlich ist für ihr Leben, ohne es zurückzuhalten durch irgendeine Macht, ohne es einzuschränken durch irgendein Gesetz, ohne es zu zertrennen durch irgendwelche Grenzen. Allen gemeinsam und in reichlichen Mengen hat Er diese Dinge gegeben, ohne irgendwen zu benachteiligen, sondern indem Er die Ehrengleichheit der Natur ehrte mit der Gleichheit der Gabe und so den Reichtum Seiner Güte zeigte.
     Doch die Menschen gruben Gold und Silber aus sowie glitzernde Edelsteine, verfertigten kostbare Gewänder über den Bedarf hinaus und jedwelches andere, das Krieg, Rebellion und schlimme Tyrannei mit sich bringt. Sodann überheben sie sich, getrieben vom Unverstand, und schließen ihre unglücklichen Mitmenschen vom Erbarmen aus. Nicht einmal von ihrem Überfluß wollen sie etwas geben, um der Not anderer abzuhelfen – o welcher Mangel an Bildung! o welche Roheit![10] – , noch auch erwägen sie, wenn überhaupt etwas, dass Armut und Reichtum, Freiheit –oder was wir so nennen[11] – und Knechtschaft und dergleichen mehr im Menschengeschlecht erst zu einem späteren Zeitpunkt erschienen und zwar als Krankheiten, die zusammen mit der Bosheit hereinbrachen, sind sie doch Erfindungen dieser letzteren.
     Doch am Anfang war es nicht so, wie der Herr sagt (s. Mt 19,8). Vielmehr ließ Er, Der den Menschen erschuf am Anfang, denselben frei und selbstbestimmt, zurückgehalten durch nichts anderes als das Gesetz des Gebots, und reich im Paradies der Wonne. Das gleiche bestimmte Er und schenkte Er vermittels des ersten Menschen auch dem übrigen Menschengeschlecht. Freiheit, die wahre, und Reichtum waren mithin gewährleistet allein durch das Halten des Gebots.H              die Tag und Nachtg,   Knechtschaft und Armut aber kamen durch seine Übertretung.

Der Sturz des Menschen und seine Folgen.
Die Aufgabe des Christen in der gestürzten Welt
  26.  
either herrschen Neid und Streit und die listige Tyrannei der Schlange, welche immerdar verführt durch die Lockung des Genusses und die Dreisteren aufreizt gegen die Schwächeren. So zerteilte sich das Menschengeschlecht in einander entfremdete Individuen, und der Adel der Natur wurde verstümmelt durch die Habsucht, die sich das Gesetz des Stärkeren zum Söldner nahm.
    Du aber halte dir die ursprüngliche Rechtsgleichheit vor Augen und nicht die Aufspaltung, die nachher kam, nicht das Gesetz des Gewalthabers, sondern jenes des Schöpfers. Steh der Natur bei soweit wie deine Kräfte reichen, ehre die ursprüngliche Freiheit, achte dich selbst, deck zu die Blöße der menschlichen Gattung, hilf dem Kranken, tröste den Bedürftigen. Bist du gesund, mach den Schmerz des Kranken zu deinem eigenen, bist du reich, die Not des Armen, bist du nicht gestürzt, die Schmach des Gestürzten und Zerschmetterten. Bist du froh, die Trauer des Unfrohen, bist du begünstigt vom Glück, das Leid des vom Unglück Verfolgten.
      Gib jedem etwas als Dankgeschenk an Gott, weil du einer von denen bist, die imstand sind, zu helfen, und nicht einer von denen, die der Hilfe bedürfen, weil du nicht auf die Hände anderer zu schauen brauchst, sondern andere auf die deinigen schauen. Sei reich nicht nur an irdischem Besitz, sondern auch an Gottesfurcht, nicht nur an Gold, sondern auch an Tugend, oder besser gesagt, an dieser allein. Übertriff den Nächsten an Adel, indem du dich als mildtätiger erweist. Werde dem Unglücklichen zum Gott, indem du das Erbarmen Gottes nachahmst.

    27.  Denn keine andere Eigenschaft von Gott hat der Mensch so sehr wie das Tun von Gutem. Obwohl Gott größer ist im Wohltun und der Mensch geringer, tut es doch jeder im Maß seiner Kraft. Gott erschuf den Menschen, und nachdem Er ihn [der Übertretung wegen aus dem Paradies] vertrieben hatte, holte Er ihn wieder zu Sich. Deshalb verachte auch du nicht denjenigen, der gestürzt ist.
     Gott zeigte höchstes Erbarmen,
      – indem Er allen das Gesetz und die Propheten gab und noch vor diesen das natürliche, ungeschriebene Gesetz [des Gewissens], Prüfer unseres Tuns, das uns tadelt, unterweist und erzieht;
      – indem Er am Ende Sich Selbst hingab als Lösepreis für das Leben der Welt (1 Tim 2,6; Joh 6,51);
       – indem Er uns die Apostel schenkte, Evangelisten, Lehrer, Hirten, wunderbare Heilungen, Wunder und Zeichen, Rückkehr ins Leben, die Abschaffung des Todes als Siegeszeichen gegen den, der uns besiegt hatte, das Testament der Schatten, das Testament der Wirklichkeit,[12] Gnadengaben des Heiligen Geistes, das Mysterium des Heils im Neuen Bund.
       Du mithin, sofern du auch zum Höheren befähigt bist und zu dem, was der Seele hilft – denn auch hierin hat Gott dich reich gemacht, so du es wolltest –, versäume nicht, dem Bedürftigen auch mit solchem zu helfen. Dies zuerst vielmehr gib, besonders demjenigen, der darum bittet, und noch bevor er bittet, indem du den ganzen Tag lang das Wort Gottes als Almosen und Darlehen verteilst und dich mit Sorgfalt bemühst, das Ausgeliehene wieder einzubringen mit dem Zins des geistigen Gewinns dessen, dem geliehen wurde, denn stets geht solcher Gewinn einher mit dem Wort, und  so werden sich allmählich die Samen der Gottesfurcht mehren in ihm.
     Bist du aber zu solchem nicht imstand, dann hilf mit dem zweitbesten und geringeren und tu, was immer im Bereich deiner Kräfte ist. Reiche Nahrung dar, reich einen Flicken dar, bring Arznei herbei, verbinde Wunden, stell mitfühlende Fragen, ermuntere zur Geduld, sag ein aufrichtendes Wort, sei den Leidenden nahe.
     Es wird dir dadurch nichts Schlimmes widerfahren. Du wirst nicht angesteckt werden durch die Krankheit, selbst wenn vollends zimperliche Menschen solches meinen, getäuscht durch nichtiges Gerede. Sie schieben solches weit eher vor, um entweder ihren Mangel an Gottesfurcht zu rechtfertigen oder Gottesfurcht vorzutäuschen, indem sie Zuflucht nehmen zur Angst, als wäre sie etwas großes und weises. Laß dich überzeugen von den Worten der Ärzte und ihren Gehilfen sowie von den Pflegern, die mit den Kranken zusammenwohnen und von denen keiner je in Gefahr geraten ist durch die Nähe zu ihnen.
       Laß dir mithin, o Diener Christi, Gottesfreund und Menschenfreund, nichts Unedles zuschulden kommen, selbst wenn die Sache erschreckt und mißtrauisch machen kann, sondern faß Mut kraft des Glaubens. Möge das Erbarmen die Angst besiegen, die Gottesfurcht die Weichlichkeit. Möge sich den fleischlichen Gedanken die Frömmigkeit entgegenstellen. Mißachte nicht den Bruder, geh nicht vorüber an ihm, wende dich nicht ab von ihm wie von einem Fluch,  einem Greuel oder irgendetwas anderem, das man flieht und von sich tut. Glied ist er von dir, hat auch das Unglück ihn gebeugt. Dir an Gottes Stelle ist der Arme überlassen,  und wenn du erhobenen Hauptes an ihm vorüberschreitest, werde ich dich mit diesen Worten zu erweichen suchen: Du hast vor dir die Möglichkeit, eine menschenfreundliche Tat zu vollbringen, und läßt dich davon abhalten vom Teufel?

Keiner wiege sich in Sicherheit
   28.  
in jeder, der auf dem Meer unterwegs ist, steht in Gefahr, Schiffbruch zu erleiden, und dies umso mehr, je tollkühner er dahinsegelt. Und ein jeder, der umhüllt ist von einem Leib, steht in Gefahr, die Übel des Leibes zu erleiden, und dies umso mehr, je hochmütiger er dahinschreitet, ohne auf jene zu achten, die vor ihm am Boden liegen.
     Solange du günstigen Wind im Rücken hast, reich dem Schiffbrüchigen die Hand. Solange du gesund bist und reich, hilf demjenigen, dem es schlecht geht. Warte nicht, bis du aus eigener Erfahrung lernen mußt, wie schlimm die Unmenschlichkeit ist und wie wohltuend das Erbarmen für jene, die seiner bedürfen. Wolle nicht, dass Gott Seine Hand erhebe gegen jene, die mit hochgerecktem Nacken hinwegsehen über die Armen. Durch das Unglück der anderen laß dich belehren hierüber.
      Gib dem Bedürftigen etwas, und sei es auch nur wenig, denn selbst das Wenige ist viel für den, dem es an allem fehlt, und auch für Gott, sofern das, was du gibst, dem entspricht, was du vermagst (s. Lk 21,1ff). Anstelle von Großem gib die Bereitwilligkeit. Hast du  gar nichts zu geben, gib Tränen. Denn machtvolle Arznei für den Leidenden ist das Mitgefühl, das aus der Seele kommt, und das aufrichtige Mitleiden lindert das Unglück in hohem Maß.
       Für dich, o Mensch, kann der Mensch nicht weniger gelten als das Tier, hinsichtlich dessen dir das Gesetz gebietet, dass du es herausziehen sollst, wenn es in eine  Grube gefallen ist, oder zurückholen, wenn es sich verirrt hat (s. Deut 22,1ff). Wenn das Gesetz hiermit noch etwas Tieferes und  Verborgenes andeutet, das nicht offen gesagt ist, wie es bei den meisten dunklen und mehrdeutigen Stellen des Gesetzes der Fall ist, so bin nicht ich es, der dies wissen kann, sondern der Heilige Geist, Der alles ergründet und weiß (s. 1 Kor 2,10). Doch soweit ich es verstehe und soweit es zu tun hat mit meinem Thema, sagt die Schrift dies, um uns vermittels der kleinen milden Taten zu ertüchtigen zu den höheren und vollkommeneren. Denn wenn von uns schon die Mildtätigkeit gegenüber den vernunftlosen Tieren gefordert ist, wieviel mehr noch schulden wir solche gegenüber unseren Mitmenschen und in Ehre Gleichgestellten?

     Gegen jene, die eine Vorbestimmung
zum Glück oder Unglück geltend machen

   29. 
ies mithin lehren uns der Logos, das Gesetz und die einsichtigsten unter den Menschen, denen zufolge das Spenden von Wohltaten höheren Wert hat als das Empfangen von solchen und Barmherzigkeit wichtiger ist als Gewinn.
       Doch was sagen über jene von uns, die sich für Weise halten? Damit meine ich jetzt nicht die Außenstehenden,[13] die sich zur Rechtfertigung ihrer Leidenschaften Götter erfunden haben, wie etwa den Kerdoos, [14] dem sie den ersten Rang zuteilen, und die, was noch schlimmer ist, zudem glauben, dass man den Dämonen zuliebe Menschen umbringen müsse, weshalb bei den Heiden die Unmenschlichkeit sogar zum Kult gehört und sie sich erfreuen an solchen Opfern und,  zu bösen Priestern und Mystagogen von Bösen geworden, auch ihre Götter zu erfreuen vermeinen.
       Sondern es gibt leider auch unter den Unsrigen einige – und das ist wahrlich zum Weinen –, die so weit davon entfernt sind, mitzufühlen mit den Notleidenden und ihnen zu helfen, dass sie sie gar beschimpfen mit bitteren Worten und misshandeln und dabei Nichtiges und Leeres philosophieren, als solche in der Tat, die aus der Erde heraus reden (Is 29,4) und zur Luft sprechen und nicht zu verständigen Ohren, die gewohnt sind an göttliche Dogmen, erkühnen sie sich doch zu sagen: "Von Gott ist jenen bestimmt, zu leiden, von Gott ist uns bestimmt, glücklich zu sein. Wer bin ich, dass ich Gottes Ratschlüsse aufheben und mich anheischig machen könnte, gütiger zu sein als Er? Sie sollen leiden, geplagt sein, im Unglück leben. So ist es beschlossen worden."
      Diese Leute sind Gottes Freunde nur, sofern ihnen dies erlaubt, ihre Almosen zurückzuhalten und sich gegen die Elenden zu benehmen wie dreiste Jugendliche. Dass sie in Wirklichkeit gar nicht glauben, das Glücklichsein sei ihnen von Gott zuteil geworden, zeigen sie mit aller Deutlichkeit durch das, was sie sagen. Denn wer könnte  auf solche Weise über die Bedürftigen denken, wenn ihm wirklich bewusst wäre, dass Gott der Spender ist von dem, was er besitzt? Wer weiß, dass er etwas von Gott empfangen hat, macht davon auch Gott gemäßen Gebrauch.

     30.  Ob aber das Leiden jener Menschen von Gott kommt, ist keineswegs erwiesen, bringt  doch die Materie die Störung auch von alleine hervor, wie es beispielsweise bei den Ausflüssen geschieht. Und wer weiß, ob der eine bestraft wird mit Unheil und der andere belohnt mit Aufstieg, oder ob nicht etwa das Gegenteil geschieht, dass nämlich der eine seiner Bosheit wegen aufsteigt und der andere seiner Tugend wegen geprüft wird? Dass der eine höher hinaufsteigt, damit er auch elender herabstürze, nachdem er zuvor seiner ganzen  Schlechtigkeit gleichsam wie einer Krankheit freien Lauf gelassen hat, um hernach umso gerechter bestraft zu werden, während der andere wider Erwarten in Bedrängnis gerät, damit er wie Gold im Feuerofen geläutert werde von der Schlechtigkeit, die er noch in sich haben mag, wie gering sie auch sei. Denn vollkommen rein von Makel ist keiner, der der geschaffenen Natur angehört, wie wir  vernommen haben (s. Ps 142,2; Hiob 25,4), selbst wenn er völlig bewährt zu sein scheint.
     Denn ein solches Mysterium finde ich in der Heiligen Schrift, und ich bräuchte viel Zeit, um all die Worte des Heiligen Geistes aufzuzählen, die mich zu diesem Gedanken führen. Doch wer vermöchte die Sandkörner der Meere zu zählen oder die Tropfen des Regens oder die Ausdehnung des Abgrunds zu messen? Wer vermöchte die Tiefe der allumfassenden Weisheit  Gottes zu ergründen, in der Er auch alles erschaffen hat und mit der Er alles regiert, so wie Er will und weiß? Es genügt, wenn wir wie der göttliche Apostel voller Bewunderung allein schon ihre Unerforschlichkeit und Unfaßbarkeit erkennen: "O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und des Wissens Gottes! Wie unergründlich sind Seine Ratschlüsse und wie unerforschlich Seine Wege!" (Röm 11,33), und: "Wer hat die Gedanken des Herrn erkannt?" (Röm 11,34). Und Hiob sagt: "Wer ist bis zu den höchsten Höhen  Seiner Weisheit gelangt?" (s. Hiob 15,8). "Wer ist weise und begreift dies?" (Os 14,10; Ps 106,43), statt das Unmögliche zu wollen und zu messen versuchen, was jenseits des Meßbaren ist?
    
Das hohe Kunstwerk der göttlichen Vorsehung
und die Torheit der Schicksalsgläubigen
    31. 
öge ein anderer sich erkühnen und erdreisten in diesen Dingen, doch besser wäre, keiner tut es. Was mich betrifft, so zögere ich, die Züchtigung hienieden in jedem Fall der Bosheit zuzuschreiben und das Wohlergehen der Gottesfurcht. Es trifft zwar zu, dass zuweilen das Unglück dazu dient, die Bosheit der Bösen zu bremsen, und das Wohlergehen dazu, der Tugend der Milden den Weg zu ebnen, doch nicht immer verhält es sich so und nicht auf ewig, denn erst im künftigen Leben empfangen die einen den Lohn für die Tugend und die anderen die Strafe für die Bosheit. Wie die Schrift sagt, werden die einen auferstehen zum Leben, die anderen aber zum Gericht (s. Joh 5,29).
      Die irdischen Geschehnisse jedoch sind von anderer Art und anders gelenkt. Alle sind ausgerichtet auf das Künftige, und auch das an ihnen, was uns unregelmäßig und ungeordnet scheint, ist durchaus regelmäßig und geordnet bei Gott, geradeso wie die Vorsprünge und Einbuchtungen der Körper, die Größe und die Kleinheit der Dinge, die Erhebungen und Vertiefungen der Erde zwar als Unregelmäßigkeiten und Mangel an Ordnung erscheinen mögen, aber gerade ihre Schönheit ausmachen, wenn man sie in ihrer wechselseitigen Beziehung und ihrer harmonischen Abstimmung aufeinander wahrnimmt. Auch das Material, das der Künstler bearbeitet, ist zunächst ungestalt und ungeordnet, bis es unter seinen geschickten Händen die vollendete Gestalt des Kunstwerks annimmt. Und wenn wir seine letztendliche Schönheit sehen, begreifen und bekennen auch wir, dass es sich um ein Kunstwerk handelt.
       Gott ist in der Tat nicht ungeschickt wie wir, noch auch lenkt Er die Dinge ohne Ordnung, wie wir meinen, weil wir die Ursachen der Geschehnisse nicht begreifen.

     32.  Muß ich ein Bild herbeiziehen, um unsere Verfassung zu veranschaulichen, dann würde ich sagen, wir sind nicht weit entfernt vom Zustand jener, die an Seekrankheit und Schwindel leiden und glauben, alles drehe sich, während in Wirklichkeit sie selbst es sind, die sich drehen. So auch jene, von denen hier die Rede ist. Denn sie wollen nicht wahrhaben, dass Gott weiser ist als sie, wenn Taumel sie ergreift ob irgendwelcher Geschehnisse. Noch auch wollen sie sich anstrengen, um den Grund für dieselben zu suchen – wird doch die Wahrheit nur demjenigen gegeben, der sich auch müht um sie (s. Mt 7,7) –, oder sich an solche wenden, die weiser und geistiger sind als sie, denn auch dies ist ein Geschenk der Gnade, und nicht allen ist die Erkenntnis gegeben. Ebensowenig wollen sie dieselbe erjagen durch Reinheit der Lebensführung oder Weisheit erbitten von der Weisheit Selbst. Sondern sie greifen – o Roheit! – zum Billigsten und behaupten lügnerisch, alles geschehe ohne Grund, weil sie selbst den Grund nicht kennen. So sind sie denn durch Unwissenheit zu Weisen geworden oder durch übergroße Weisheit, um es einmal so zu nennen, zu Unweisen und Unverständigen.
      Von daher lehrten einige, alles geschehe durch Zufall und automatisch – in der Tat automatische und zufällige Gedanken! –, oder ersannen eine vernunftlose und unlösbare Macht der Gestirne, welche angeblich das uns Betreffende bestimmen, wie sie wollen, oder vielmehr gebunden durch Zwangsläufigkeiten, durch die Annäherung bzw. Entfernung gewisser Planeten und Fixsterne, durch die allgemeine Bewegung des Alls, die angeblich alles regiere. Noch andere bürdeten dem geplagten Menschengeschlecht mancherlei anderes auf, das sie sich ausdachten, und zerteilten die von ihnen unerkannte und unverstandene göttliche Vorsehung in verschiedene Lehren und Benennungen.
     Es gibt aber auch solche, die die Vorsehung Gottes großer Mangelhaftigkeit bezichtigen, indem sie zwar anerkennen, dass sie das lenkt, was über uns ist, jedoch leugnen, dass sie hinabreiche bis zu uns Menschen, die ihrer doch am meisten bedürfen, geradeso als befürchteten sie, mit der Anerkennung der göttlichen Wohltaten für die vielen Gott als zu gütig darzustellen,  oder als hätten sie Angst,  Gott könnte ermüden, wenn Er Seine Wohltaten vielen spendet.

      33.  Doch diese Leute sind, wie schon gesagt, zu Fall gekommen, nachdem die Vernunft sie zu Recht verlassen hat. Denn ihr unverständiges Herz, sagt die Schrift, verfiel in Eitelkeit (s. Röm 1,21ff). Indem sie vorgaben, Weise zu sein, wurden sie zu Toren und tauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes gegen irgendwelche Mythen und Schatten, mit denen sie die allumfassende göttliche Vorsorge beleidigen.     
       Wir aber sollen weder selbst solche Ungeheuerlichkeiten ersinnen, schulden wir doch als  logische, vernunftbegabte Wesen und Diener des Logos Treue zu Demselben,[15] noch auch jene aufnehmen, die solches glauben, selbst wenn sie ihre absurden Gedanken und Lehren mit gewandter Zunge zum Ausdruck bringen und durch das Sonderbare locken. Sondern wir glauben, dass Gott der Schöpfer und Urheber von allem ist. Denn wie könnte das All existieren, wenn ihm nicht jemand das Sein gegeben und es zusammengefügt und geordnet hätte? Wir anerkennen auch die göttliche Vorsorge, welche dieses All zusammenhält und zusammenbindet. Denn der Schöpfer von allem ist notwendigerweise auch dessen Fürsorger. Wäre das All automatischem Geschehen überlassen,  wie das Schiff dem Sturm, müßte es sich auf Grund der Unbeständigkeit der Materie sogleich wieder auflösen und zerfallen und zurückkehren in die ursprüngliche Wirrsal und Ungeordnetheit.
      Und was unsere menschlichen Angelegenheiten betrifft, so anerkennen wir, dass sie unter der Aufsicht und Lenkung Dessen stehen, Der unser Schöpfer oder, wenn du vorziehst, unser Bildner ist. Und dies obwohl unser Leben gekennzeichnet ist von Widrigkeiten, deren Ursachen wir nicht kennen und uns vielleicht auch deshalb verborgen bleiben, damit wir uns in Ehrfurcht beugen vor dem, was unfaßbar und über allem Verstand ist. Denn was leicht zu fassen ist, wird auch leicht verachtet. Doch was uns übersteigt, hält uns umso mehr zur Ehrfurcht an, je unbegreiflicher es ist. Und so werden wir gestärkt in der Sehnsucht nach dem, was all unser irdisches Begehren übertrifft.

Relativer Wert und Unwert
von Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut
 34.  
Laßt uns daher weder die Gesundheit preisen in jedem Fall, noch die Krankheit des-gleichen verwerfen, weder unser Herz an den Reichtum hängen, wenn er fließt (Ps 61,11) – denn er fließt und zerfließt wieder, und wenn wir uns daran klammern, verschwindet mit ihm gleichsam auch ein Teil unserer Seele –, noch uns auflehnen gegen die Armut, als wäre sie das Schlimmste von allem, etwas Unannehmbares und Hassenswürdiges. Sondern erkennen  wir, dass Gesundheit ohne Einsicht verachtenswert ist, denn ihre Frucht ist die Sünde, Krankheit bei einem gottgefälligen Leben hingegen schätzenswert, haben doch viele den Sieg errungen durch sie, und vielleicht verbirgt sich unter den Kranken ein Hiob, der weit glücklicher zu preisen ist als die Gesunden, selbst wenn er seine Geschwüre schaben muß, selbst wenn er im Elend ist Tag und Nacht unter freiem Himmel, geplagt von seinen Wunden, seiner Frau und seinen Freunden (s. Hiob 2,7ff). Verwerfen wir auch den unrechtmäßig erworbenen Reichtum, dessent-wegen der Reiche zu Recht in den Flammen schmachtet, sodass er um einen einzigen Tropfen Wasser fleht, und preisen wir die glückliche und weise Armut, dank welcher Lazarus gerettet wird und den Reichtum der Erquickung im Schosse Abrahams erlangt (s. Lk 16,19ff).


     35.  Auch aus folgendem Grund mithin halte ich es für notwendig, Barmherzigkeit zu üben gegen unsere Mitmenschen und den Bedürftigen zu helfen: um nämlich denjenigen den Mund zu stopfen, die so denken über diese Dinge, damit nicht ihr eitles Geschwätz den Vorrang habe und ihre Roheit auch uns zum Gesetz gemacht werde.
    Allem voran aber laßt uns das göttliche Gebot vermehrt in Ehren halten, ebenso wie das gute Beispiel. Was ist das Gebot? Achtet auf die Beharrlichkeit und Unumwundenheit, mit der es verkündet worden ist. Denn die Menschen des Heiligen Geistes begnügten sich nicht damit, ein oder zweimal etwas zu sagen über die Bedürftigen, noch auch sagten die einen etwas und die anderen nichts, oder die einen mehr und die anderen weniger, als handle es sich hier nicht um eine überhaus wichtige und dringliche Sache. Sondern alle haben an erster Stelle oder zumindest an einer der ersten Stellen zur Hilfe an die Armen aufgefordert, und zwar ein jeder mit Eindringlichkeit, indem sie einmal ermahnten, ein andermal drohten, noch ein andermal tadelten. Zuweilen sprachen sie auch ihre Anerkennung aus für jene, die sich hervorgetan hatten im Guten, damit sie sich noch mehr befleißigen möchten darin, des Folgenden eingedenk:
      "Des Elends der Armen und des Seufzens der Bedürftigen wegen stehe Ich nun auf", sagt der Herr (Ps 11,6). Wer erschrickt nicht beim Aufstehen des Herrn? Steh auf, o Herr mein Gott, möge Dein Arm sich erheben. Vergiß nicht der Bedürftigen (Ps 9,33). Beten wir, dieses Erheben möge ausbleiben. Begehren wir nicht, den Arm erhoben zu sehen gegen die Ungehorsamen, und noch weniger, ihn herabsausen zu sehen auf die Hartherzigsten unter ihnen. Anderswo wiederum sagt die Schrift: Er überhörte nicht den Schrei der Bedürftigen  (Ps 9,13), und: Nicht auf immer wird der Arme vergessen bleiben (Ps 9,19). Und: Seine Augen wachen über den Bedürftigen,  Seine Lider aber prüfen die Söhne der Menschen (Ps 10,4), wobei das Wachen der Augen  höher und bedeutsamer, das Prüfen der Lider hingegen sozusagen geringer und zweitrangig ist.

Der Barmherzige hilft auch sich selbst
  36.  
un könnte jemand sagen: "Gegen das, was hier gesagt worden ist bezüglich der Armen und Bedürftigen, die Unrecht erleiden, habe ich nichts einzuwenden. Doch möge auch das Folgende dich anspornen zum Werk der Barmherzigkeit. Denn größer noch als die Hilfe, die der Wohlgestellte den zu Unrecht Leidenden spendet, von denen hier schon so lange die Rede ist, ist die Gnade, die er dafür empfängt."  Geradeso nämlich wie  derjenige, welcher den Bedürftigen mißachtet, dessen Schöpfer erzürnt (Spr 17,5), erweist derjenige, welcher dem Geschöpf beisteht, dem Schöpfer die Ehre.
     Wenn du andrerseits hörst: Der Arme und der Reiche begegneten sich, denn beide hat der Herr erschaffen (Spr 22,2), so versteh das nicht etwa in dem Sinn, dass Gott den einen als Armen und den anderen als Reichen erschaffen hätte, damit du dich nicht noch mehr über den Armen erhebst. Denn es ist keineswegs gesagt, dass dieser Unterschied zwischen den beiden von Gott stammt. Was die Schrift sagt, ist vielmehr, dass beide gleicherweise Geschöpfe Gottes sind, selbst wenn das Äußerliche ungleich ist. Dies soll dich erweichen und zum Mitgefühl und zur Bruderliebe bewegen, damit sie dich, wenn die äußeren Dinge dich zur Überheblichkeit verleiten, zurückhalten und mäßigen möchten.
    Was noch? Wer sich des Armen erbarmt, leiht Gott, sagt die Heilige Schrift (Spr 19,17). Wer wird nicht gern einem solchen Schuldner leihen, Der das Darlehen zur gegebenen Zeit mit Zinsen zurückzahlen wird? Und wiederum: Durch Taten der Barmherzigkeit und des Glaubens werden  Sünden weggewaschen (Spr 15,27).

   37.  Reinigen wir uns mithin, indem wir uns erbarmen, entschlacken  wir unsere Seelen mit Hilfe der guten Heilpflanze von Schmutz und Verunreinigungen. Werden wir weiß, die einen wie Wolle, die anderen wie Schnee (s. Is 1,18), entsprechend dem Maß unserer Barmherzigkeit.
      Ich will auch etwas sagen, das uns größere Furcht gebieten sollte. Hast du in dir nichts Zerbrochenes (s. Ps 50,19), nichts Zerquetschtes, keinerlei eiternde Wunde (s. Ps 37,6), keinen Aussatz der Seele, keinen Befall oder glänzendes Mal (s. Lev 13,2ff), die zwar vom Gesetz einigermaßen entfernt worden sind, aber zur vollständigen Heilung Christi bedürfen, dann zeige Ehrfurcht gegenüber Ihm, Der um unsertwillen verwundet und schwach geworden ist. Und Ehrfurcht zeigst du Ihm, wenn du dich milde und menschenfreundlich erzeigst gegenüber demjenigen, der Glied Christi ist.
      Sollte dich aber der Räuber und Tyrann unserer Seelen in solchem Maß verwundet haben – sei es auf dem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho, sei es an einem anderen Ort, wo er dich unbewaffnet und unvorbereitet traf –, dass du zu Recht sagen kannst: Es stanken und faulten meine Wunden, meiner Torheit wegen (Ps 37,6), wenn du dich mithin in einen solchen Zustand befindest, dass du nicht einmal mehr Heilung suchst, noch auch weißt, wie du geheilt werden kannst, dann wehe in der Tat dieser Wunde und dem tief reichenden Elend!
     Bist du aber noch nicht vollends verzweifelt und in einen unheilbaren Zustand geraten, dann  tritt herzu zum Arzt, bitte Ihn und heile die Wunden durch die Wunden,[16] erwirb Gleiches durch Gleiches, oder genauer gesagt, heile durch das Kleinere das Größere. Dann wird Er zu deiner Seele sagen: "Das Heil deiner Seele bin Ich" (Ps 34,3), und: "Dein Glaube hat dich gerettet" (Mt 9,22), und: "Siehe, du bist gesund geworden" (Joh 5,14) und alle anderen Worte Seiner Barmherzigkeit, wenn Er nur sieht, dass du den Leidenden Barmherzigkeit erweist.

      38.  "Selig die Barmherzigen" sagt der Herr, "denn sie werden Erbarmen finden" (Mt 5,7). Unter den Seligpreisungen steht die Barmherzigkeit keineswegs an geringer Stelle. Anderswo  heißt es: Selig derjenige, der sich der Armen und Bedürftigen erbarmt (Ps 37,6), und: Gut ist der Mann, der sich erbarmt und leiht (Ps 111,5), ferner: Den ganzen Tag lang erbarmt sich und leiht der Gerechte (Ps 36,26). Ergattern wir die Seligpreisung, kommen wir zur Einsicht, damit auch wir selig gepriesen werden möchten. Werden wir zu Guten.
      Selbst von der Nacht laß dich nicht unterbrechen im Werk der Barmherzigkeit. Sag nicht: "Geh und komm wieder, morgen werde ich dir geben" (Spr 3,28), damit sich nicht irgendetwas zwischen deine Bereitschaft und die gute Tat schiebe. Die Nächstenliebe ist das einzige, was  keinen Aufschub duldet. Speise den Hungernden mit deinem Brot, obdachlose Arme führe in dein Haus, und dies mit Bereitwilligkeit (Is 58,7). Denn wer sich erbarmt, sagt die Schrift, tue es mit Freude (Röm 12,8). Mit deiner Bereitwilligkeit verdoppelt sich deine gute Tat. Doch was mit Bedauern und ungern getan wird, ist glücklos und unschön. Ein Fest soll  für uns das Wohltun sein und nicht ein Anlaß zur Betrübnis.
      Wenn du, wie geschrieben steht, die Fessel der Ungerechtigkeit löst (s. Is 58,6) und jede ungerechte Absprache – was ich hier verstehe als kleinliche Berechnung und Versuchung,  Zweifel auch und Murren –, was wird geschehen? Großes in der Tat und Wunderbares! Wie kostbar und erhaben ist der Lohn hiefür! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie der erste Sonnenstrahl, und deine Heilung wird alsbald folgen (Is 58,8). Und wer sehnt sich nicht nach Licht und nach Heilung?

Hilfe an die Armen ist für den Christen Gesetz
 39. 
ur Ehrfurcht bewegt mich  jedoch auch die Armenkasse Christi (s. Joh 12,7), die uns zur Speisung der Bedürftigen mahnt. Ebenso die übereinstimmende Haltung des Petrus und des Paulus, die, obwohl sie getrennt voneinander das Evangelium verkündeten, gemeinsam für das Wohl der Armen sorgten (s. Gal 2,9-10). Ferner das Wort des Herrn an den Jüngling über die Vollkommenheit, womit Er klarstellt und zum Gesetz macht, dass dieselbe darin besteht, seine Habe den Armen zu geben (s. Mt 19,16ff).
     Meinst du vielleicht, das Werk der Barmherzigkeit sei für dich nicht Pflicht, sondern freie Wahl? Nicht Gesetz, sondern Empfehlung? Auch ich selbst wollte sehr, dass es sich so verhalte, und meinte auch, so sei es. Doch mich erschrecken das Stehen zur Linken und die Böcke (s. Mt 25,31-46) sowie das Urteil, das über sie gesprochen werden wird vom Richter, denn dieser Platz ist ihnen zuteil geworden nicht etwa, weil sie geraubt oder geplündert oder die Ehe gebrochen oder irgendetwas anderes getan hätten von den verbotenen Dingen, sondern allein deswegen, weil sie es versäumt haben, Christus zu dienen in den Armen.
       
     40.  Wenn ihr mir mithin glauben wollt, o ihr Knechte Christi und Brüder und Miterben – solange noch Zeit ist, laßt uns Christus besuchen, laßt uns Christus pflegen, laßt uns Christus speisen, laßt uns Christus bekleiden, laßt uns Christus aufnehmen unter unserem Dach, laßt uns Christus ehren. Nicht nur mit einer Festtafel, wie einige es taten (s. Lk 7,36), nicht nur mit kostbarem Salböl wie Maria (s. Joh 12,3), nicht nur mit einem Grab wie Joseph von Arimathäa, nicht nur mit Begräbnisausstattung wie Nikodemus, der vom halben Jünger zum Freund Christi wurde (s. Joh 3,1ff; 19,38ff), nicht nur mit Gold, Weihrauch und Myrrhe wie vor diesen allen die Magier (s.Mt 2,11). Sondern weil der Gebieter aller "Erbarmen und nicht Opfer" will (Mt 9,13; Os 6,6), und den Myriaden fetter Lämmer das Mitleid vorzieht, laßt uns Ihm dasselbe darbringen vermittels der Bedürftigen, die heute am Boden liegen, damit sie uns dereinst, wenn wir ausziehen aus diesem Dasein, in den ewigen Wohnstätten empfangen möchten, in Christus Selbst, unserem Herrn, Dem die Herrlichkeit gehört in die Ewen. Amen.









     











Quelle: www.prodromos-verlag.de


[1] Dies ist die 14. der 46 erhaltenen Homilien des hl. Gregor des Theologen (330-390, s. Das Synaxarion am 25. Januar).
   Er hielt sie um 370 in Cäsarea in Kappadokien. Die "Homilie über die Liebe zu den Armen" ist eine anschauliche
   Darlegung orthodoxer Gesellschaftslehre. Sie zeigt die unverminderte Aktualität der Lehren der Heiligen Väter,
   gründen diese doch auf dem zeitlosen Wort Gottes, und wenn die heutigen Zustände sich in äußerlichen Einzelheiten
   unterscheiden mögen von den damaligen, sind sie doch in ihrem Wesen dieselben.  Griech. Originaltext unter dem
   Titel Περι  φιλοπτωχίας in EPE GregTheol Bd. 5. Deutsche Übers. vom Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers,
   Chania 2011.
[2] Das Wasser war nämlich von seinen Kampfgenossen unter Lebensgefahr aus dem von den Fremdstämmigen besetz-
   ten  Bethlehem hergebracht worden für ihn.
[3] Gr. ἀσσάριον, kleine Münze der Antike. Diese Einzelheit aus dem Leben des Apostels Petrus schöpft der hl. Gregor
   aus einer Überlieferung, die nicht niedergeschrieben ist in der Hl. Schrift.  
[4] Mit "Praxis" bezeichnen die Heiligen Väter die der Gottesschau notwendigerweise vorausgehende Phase der Befrei-
   ung von den Leidenschaften durch das Halten der Gebote Christi, durch Askese und Gebet.
[5] Gemeint sind die Aussätzigen.
[6] Gr. διὰ τῶν πράξεων. Siehe Fußnote 4.
[7] Als Träger des Gottesbildes.
[8]  Außerbiblische Überlieferung von Worten des Apostels Petrus.
[9]  Mit "Joseph" ist das Nordreich von Israel gemeint (Hauptstadt Samaria), das im letzten Viertel des 8. Jh. v. Chr.
    gemäß den Ankündigungen der Propheten untergehen sollte.
[10] Der hl. Gregor verwendet hier den Begriff σκαιóτης, von σκαιός, was "westlich" bedeutet (z.B. das Skäische Tor, d.h. 
    das Westtor von Troja) und zugleich "links, linkisch, einfältig, unverständig, ungebildet, grob" usw.
[11] Gemeint ist hier nicht die gottgegebene Freiheit des menschlichen Willens, sondern die politische Freiheit der
     höheren Gesellschaftsschichten. Siehe weiter unten.
[12] Gemeint sind das Alte und das Neue Testament, denn das erstere war gleichsam die Vorschattung des zweiten (so
    wie am frühen Morgen ein Mensch, der nach Westen geht, seinen Schatten vorauswirft).
[13] Gr. τοὺς ἔξωθεν, d.h. die  Heiden, die außerhalb der Kirche sind.
[14] Kerdoos war einer der Beinamen des Hermes, des Schutzgottes des Handels und des Gewinns.
[15] Hier liegt ein Wortspiel vor, das im Deutschen nicht wiedergegeben werden kann, denn das griech. Wort λόγος
    bedeutet zugleich Vernunft, Logik, Grund, Wort und Logos (Christus).
[16] Das heißt die Wunden deiner Seele durch die Pflege der Wunden deiner leidenden Mitmenschen.

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