Hl. Symeon der Neue Theologe
Geistiges Wissen und profane Gesinnung [1]
Geistiges Wissen und profane Gesinnung [1]
Die Hl. Schrift ist ein versiegelter Schatz
1. Brüder
und Väter, das geistige Wissen ist gleich einem Haus, errichtet
inmitten des weltlichen und hellenischen[2] Wissens, worin wie in einem
festgefügten und sorgfältig verschlossenen Kasten das Verständnis der
von Gott inspirierten Schriften und deren unaussprechlicher Reichtum
hinterlegt sind. Diesen Reichtum vermag keiner je zu erblicken, der das
Haus betritt, es sei denn, der Kasten werde ihm geöffnet. Die
menschliche Weisheit ist außerstand, diesen Kasten zu öffnen, und
deshalb bleibt der in ihm hinterlegte Reichtum des Hl. Geistes
jedwelchem der in der Welt lebenden Menschen unbekannt. Selbst wenn
sich ein Mensch den ganzen Kasten auf die Schultern laden und mit sich
tragen würde − der darin hinterlegte Schatz bliebe ihm dennoch
unbekannt.
Das heißt selbst wenn er die Gesamtheit der Heiligen
Schriften liest und auswendig kennt und sie wie einen einzigen Psalm in
sich trägt, die darin verborgene Gabe des Heiligen Geistes bleibt ihm
dennoch unbekannt. Denn weder erschließt sich der Inhalt des Kastens
durch den Kasten, noch auch erschließt sich der Inhalt der Schrift
durch die Schrift. Wie also? Hör zu.
Wie der Schatz erschlossen wird
2. Du
siehst einen kleinen Kasten, allseits sicher verschlossen, und auf
Grund seines Gewichts sowie seiner äußeren Pracht folgerst du und
glaubst vielleicht auch auf Grund dessen, was du von anderen gehört
hast, dass er in seinem Inneren einen Schatz birgt, und deshalb nimmst
du ihn an dich und gehst schnell weg damit. Doch welchen Nutzen hast du
davon, sag mir, wenn du ihn versiegelt und verschlossen mit dir
herumträgst und ihn nicht öffnest? Nie in deinem Leben wirst du den
Schatz in seinem Innern sehen, das Funkeln seiner Edelsteine, den Glanz
seiner Perlen, das Strahlen seines Goldes. Welchen Nutzen hast du, wenn
du nicht gewürdigt wirst, auch nur ein klein wenig davon zu nehmen, um
etwas zu kaufen zu deiner Ernährung oder Bekleidung, sondern, wie wir
sagten, den Kasten rundum versiegelt mit dir herumträgst, gefüllt mit
einem unermeßlich kostbaren Schatz, während du selbst hungerst und
dürstest und entblößt bist? Überhaupt keinen Nutzen hast du davon.
3.
Begreife, Bruder, dass dasselbe auch für die geistigen Dinge gilt.
Verstehe unter dem Kasten das Evangelium Christi sowie die übrigen der
göttlichen Schriften, in denen, verschlossen und versiegelt, das ewige
Leben enthalten ist und mit ihm die unaussprech-lichen und für die
leiblichen Augen unsichtbaren ewigen Güter, gemäß dem Wort des Herrn: "Erforscht die Schriften, denn in ihnen ist das ewige Leben" (Joh
5,39). Und was den Menschen betrifft, der den Kasten auf seinen
Schultern trägt, so verstehe darunter denjenigen, der alle Schriften
auswendig kennt und sie ständig in seinem Munde führt. Er trägt sie mit
sich wie in einem Kasten, nämlich im Gedächtnis der Seele, mit den
Gebo-ten Gottes als Edelsteinen (s. Ps 18,11) - denn die Worte Christi
sind Licht und sind Leben (s. Joh 6,63), wie Er Selbst sagt: "Wer nicht an den Sohn glaubt, wird das Leben nicht schauen" (Joh
3,36) -, und mit den Geboten zusammen die Tugenden als Perlen. Denn
von den Geboten stammen die Tugenden, und aus den Tugenden folgt die
Offen-barung der Mysterien, die der Buchstabe verbirgt und verhüllt.
Denn
durch das Erfüllen der Gebote werden die Tugenden erlangt, und durch
das Üben der Tugenden werden die Gebote erfüllt, und so öffnet sich uns
durch sie die Tür des Wissens (s. Lk 11,52), besser gesagt - nicht durch
sie, sondern durch Den, Der gesagt hat: "Wer Mich liebt, wird Meine Gebote halten, und Mein Vater wird ihn lieben, und Ich werde Mich ihm zeigen" (Joh
14,21-23). Und wenn Gott in uns Wohnung nimmt und in uns wandelt (s. 2
Kor 6,16) und Sich uns wahrnehmlich zeigt, dann werden wir auch das im
Kasten Enthaltene, das heißt die in der Heiligen Schrift verborgenen
göttlichen Mysterien bewußt schauen. Auf andere Weise ist es nicht
möglich - und niemand täusche sich in dieser Sache! -, den Kasten des
Wissens zu öffnen und sich der darin enthaltenen Güter zu erfreuen oder
die Teilhabe an und Anschauung derselben zu erlangen.
Was der Schatz ist
Was
aber meine ich mit diesen Gütern? Die vollkommene Liebe zu Gott und zum
Nächsten, die Verachtung aller sichtbaren Dinge, die Abtötung des
Fleisches und seiner Glieder, die der Erde zugehörig sind (Kol
3,5), einschließlich der bösen Begierde, sodass wir wie der Tote, der
nicht das geringste mehr begehrt und empfindet, nie wieder die geringste
Spur von einer bösen Begierde oder einem leidenschaftlichen Gefühl
empfinden, noch auch das Übel der tyrannischen Bedrängung, sondern
allein die Gebote Christi des Erlösers in unserem Gedächtnis bewahren.
Weiter meine ich die Unsterblichkeit, die Unverweslichkeit, die
unvergängliche Herrlichkeit, das ewige Leben, das Reich der Himmel, die
Sohnschaft kraft der Wiedergeburt im Heiligen Geist, sodass wir Götter
werden der Stellung und der Gnade nach, Erben Gottes und Miterben Christi (Röm 8,17), und zusammen mit alledem den Geist[3] Christi erlangen
(1 Kor 2,16) und kraft diesem Gott und Christus Selbst in Seiner
Göttlichkeit bewußt in uns wohnen und wandeln sehen (s. 2 Kor 6,16).
4. All dessen sowie der unaussprechlichen und unausdrückbaren Dinge, die darüber hinausgehen, werden jene, die die Gebote Gottes hören und sie tun
(s. Mt 7,24), gewürdigt und in Fülle teilhaftig durch das Öffnen des
besagten Kastens, das heißt durch das Öffnen der geistigen Augen und das
Schauen dessen, was in der göttlichen Schrift verborgen ist. Die
anderen aber, die unwissend sind in allen diesen Dingen und sie nicht
erfahren haben, kosten nichts von deren Süße, von deren ewigem Leben,
stützen sie sich doch bloß auf ihre Gelehrtheit in den Heiligen
Schriften. Eben diese ist es, die sie dereinst anklagen und verurteilen
wird bei ihrem Auszug aus der Welt, weit eher als jene, die überhaupt
nichts gehört haben von den Heiligen Schriften. Denn verblendet durch
ihre [geistige] Unwissenheit, verdrehen einige dieser Leute sämtliche
göttlichen Schriften, indem sie sie entsprechend ihrer Leidenschaften
mißdeuten, weil sie sich selbst empfehlen wollen (s. 2 Kor 10,12),
geradeso als ob sie auch ohne die genaue Einhaltung der Gebote Christi
gerettet werden könnten, womit sie den Sinn der Heiligen Schriften zur
Gänze verleugnen.
Der Heilige Geist allein ist es,
Der den Schatz der Mysterien öffnet
Der den Schatz der Mysterien öffnet
5. Und
es kann nicht anders sein, denn wie wäre es möglich, dass jene, die
zugeben, die Gegenwart des Heiligen Geistes, Sein Strahlen, Seine
Erleuchtung, Sein Innewohnen in ihnen nie gekannt zu haben, das zu
erfahren und zu wissen oder auch nur bis zu einem gewissen Grad zu
begreifen vermöchten, was versiegelt und verschlossen ist, unsichtbar
und unbekannt für alle Menschen, was allein durch den Heiligen Geist
eröffnet und nur durch diese Offenbarung für uns sichtbar und erfahrbar
wird? Wie könnten sie je dazu gelangen, jene Mysterien zu erfassen -
sie, die niemals in sich die von Ihm gewirkte Umschmelzung, Erneuerung,
Veränderung, Neuschaffung und Wiedergeburt erfahren haben? Die noch
nicht getauft worden sind im Heiligen Geist (s. Mt 3,11), wie vermöchten
sie die Veränderung der in Ihm Getauften zu erfahren? Die nicht geboren worden sind von oben
(s. Joh 3,3), wie der Herr sagt, wie vermöchten sie die Herrlichkeit
der von dorther Geborenen, der aus Gott Geborenen und zu Kindern Gottes
Gewordenen (s. Joh 1,13) zu kennen? Sie, die solches nicht erleiden
wollten, sondern sich diese Herrlichkeit aus Nachlässigkeit entgehen
ließen - denn die Macht, sie zu erlangen, hatten sie wohl empfangen - ,
kraft welchen Wissens, sag mir, wären sie imstand, zu begreifen oder
auch nur zu erahnen, zu was jene anderen geworden sind?
6. Gott ist Geist
(Joh 4,24), unsichtbar, unsterblich, unzugänglich, unbegreiflich, und
zu solchen macht Er jene, die aus Ihm geboren werden, dem Vater gleich,
Der sie geboren hat, faßbar und sichtbar nur dem Leibe nach, in allem
anderen aber Gott allein bekannt und Gott allein kennend, besser gesagt,
von Gott allein gekannt sein wollend (s. Gal 4,9), zu Dem hinzuschauen
sie sich immerdar sehnen und von Ihm angeschaut zu werden sie allezeit
dürsten.
Andererseits,
geradeso wie die des Lesens Unkundigen unfähig sind, die Bücher so zu
lesen wie die Kundigen, so auch sind diejenigen, die nicht gewillt
waren, die Gebote Christi in die Tat umzusetzen, außerstand, jemals die
Offenbarung des Heiligen Geiste so zu empfangen wie jene, die diese
Gebote mit großer Sorgfalt eingehalten und erfüllt und um ihretwillen
ihr eigenes Blut vergossen haben. Denn ebensowenig wie ein Mensch, der
ein versiegeltes und verschlossenes Buch nimmt, das darin Geschriebene
zu sehen oder zu begreifen vermag, solange das Buch versiegelt bleibt,
hätte er auch alle Weisheit der Welt erlernt, so wenig auch vermag
einer, der, wie wir schon sagten, sämtliche Heiligen Schriften im Munde
führt, jemals die in ihnen verborgene mystische und göttliche
Herrlichkeit zu erfahren und zu schauen, wenn er nicht alle Gebote
Gottes erfüllt und den Paraklet in sich empfängt, Der ihm die Worte
öffnet wie ein Buch und ihm die darin gegenwärtige Herrlichkeit auf
mystische Weise zeigt. Mehr noch - Der ihm die darin verborgenen Güter
Gottes offenbart, zusammen mit dem ewigen Leben, aus dem sie strömen.
Diese
Güter sind für alle Verächter und Nachlässigen verhüllt und zur Gänze
unwahrnehmbar. Und dies zu Recht, haben sie doch alle ihre Sinne an die
Nichtigkeit dieser Welt geheftet und sich den Genüssen des Daseins sowie
den Schönheiten der Körper verschrieben, das verfinsterte Auge der
Seele allezeit dorthin gerichtet, sodass sie unfähig sind, die noetische
Schönheit der unaussprechlichen Güter Gottes wahrzunehmen und zu
betrachten.
Blind sogar noch für die eigene Blindheit
7. Wessen
leibliche Augen krank sind, erträgt es nicht, auch nur für eine kurze
Weile einen hellen Sonnenstrahl anzuschauen, sondern sobald er seinen
Blick auf diesen richtet, verliert er sogleich auch noch die geringe
Sehkraft, die er besaß. So auch ergeht es demjenigen, dessen seelische
Augen krank und dessen Sinne mit Leidenschaften behaftet sind. Er ist
nicht imstand, die Schönheit oder Anmut eines Körpers leidenschaftslos
und ohne Schaden zu betrachten, sondern selbst den relativen Frieden der
Gedanken und die zeitweilige Ruhe der üblen Lust, die er zuvor genossen
haben mochte, verliert er, indem er beim Betrachten der Leidenschaft
verharrt.
Deshalb
vermag ein solcher Mensch nicht einmal die eigene Krankheit zu
erkennen. Betrachtete er sich selbst als krank, müßte er annehmen, dass
es andere gibt, die gesund sind, und so würde er vielleicht einmal
soweit kommen, dass er sich selbst tadelt als einzige Ursache seines
Zustands, und das Nötige unternehmen, um frei zu werden von seiner
Leidenschaft. Stattdessen aber betrachtet er alle Menschen als
gleicherweise mit Leidenschaften behaftet, stellt sich selbst in eins
mit diesen und argumentiert, es sei unmöglich für ihn, höher zu stehen
als alle anderen.
Was
folgt daraus? Dass er an der Leidenschaft stirbt, der Elende, weil er
sich nicht befreien will von diesem Übel. Denn wollte er es, vermöchte
er es auch, hat er doch von Gott die Kraft dazu empfangen. Denn alle,
die wir in Seinem Namen getauft worden sind, haben von Ihm die Macht
empfangen, die frühere Niedrigkeit und Verderbtheit abzulegen wie ein
altes Gewand, Söhne Gottes zu werden und Christus anzuziehen (s. Gal
3,27).
Laßt uns Christus nachfolgen
8. Möge
Gott uns davor bewahren, Brüder, denjenigen nachzueifern, die sich in
einem solchen Zustand befinden und so gesinnt sind, verdorrt und öde,
Erdenmenschen. Laßt uns vielmehr Christus nachfolgen, Der für uns
gestorben und auferstanden ist und uns erhoben hat in die Himmel. Seinen
Fußspuren laßt uns immerdar nachfolgen. indem wir uns reinigen vom
Makel der Sünde durch die Metanie und anlegen das lichte Gewand der
Unsterblichkeit des Heiligen Geistes, in Christus Selbst unserem Gott,
Dem alle Herrlichkeit, Ehre und Anbetung gebührt in die Ewen der Ewen.
Amen.
Quelle:http://www.prodromos-verlag.de/
[1] Dies
ist die 24. der insgesamt 34 erhaltenen Katechesen des heiligen
Symeon des Neuen Theologen (949-1022, siehe Das Synaxarion am 12.
März), gerichtet an die Mönche des Klosters des Hl. Mámas in
Konstantinopel, dem er 979-1005 als Higumen vorstand. Griech. Urtext
unter dem Titel "Περί γνώσεως πνευματικής, και ὅτι ο ἐγκεκρυμμένος τοῦ
Πνεύματος θησαυρός ἐν τῷ γράμματι τῆς θείας Γραφής οὐ πᾶσιν εὔδηλóς
ἐστι καὶ τοῖς βουλομένοις, ἀλλά μόνοις τοῖς τὸν διανοίγοντα τὸν νοῦν
κτησαμένοις εἰς τὸ συνιέναι τας Γραφάς" ("Über das geistige Wissen und
darüber, dass der im Buchstaben der göttlichen Schrift verborgene
Schatz des Hl. Geistes nicht allen offen zu Gesichte steht, selbst
denen nicht, die es möchten, sondern nur denen, die Denjenigen
besitzen, Der den Sinn öffnet zum Verstehen der Schriften [s. Lk
24,45]") in EPE-Philokalia Bd. 19Δ'. Deutsche Übersetzung, unter
Berücksichtigung der franz. Fassung in SC 113, vom Kloster des Hl.
Johannes des Vorläufers, Chania 2010.
[2] Als
"hellenisch" bezeichneten die Hl. Väter der alten Zeit das, was den
nichtchristlichen, heidnischen und profanen Weltanschauungen und
Philosophien entspricht, die sich auf menschliche Erkenntnisse und
Theorien stützen, ohne Bezug zur göttlichen Offenbarung.
[3] Gr. νοῦς.
http://www.impantokratoros.gr/geistiges-wissen.de.aspx
http://www.impantokratoros.gr/geistiges-wissen.de.aspx
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